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Struwwelpeter

«Die Natur will, dass Kinder Kinder sind, bevor sie zu Erwachsenen werden », sagte Jean-Jacques Rousseau und räumte mit der Vorstellung auf, wonach Kinder nichts anderes sind als kleine Erwachsene. Seitdem benehmen sie sich entsprechend daneben wie die Erwachsenen. Der von Rousseau angerichtete Schlamassel musste zwangsläufig zum Umdenken in der Kindererziehung führen. Zuerst überrascht das einmal die meisten Eltern, dann überfordert es sie und zuletzt treibt es sie in die finale Verzweiflung. Wie sollen sie als Kompostis auch ihre Kinder verstehen? Wie bitter beklagte sich der Vater eines Jungen: «Erwin, wenn ich deine schmutzigen und obszönen Ausdrücke höre, denke ich manchmal, meine ganze Scheiss-Erziehung war für den Arsch!» Bitter, die Erkenntnis und abhold jeder elterlichen Vorbildfunktion. Das ist dann der Moment, wo die Schule ins Spiel kommt. Non scholae, sed vitae discimus. Ja, wenn nicht für die Schule, für welches Leben lernen wir dann? Dass es eine Lebenseinstellung ausserhalb von Anstand und Knigge gibt, ist ja eine der nicht einmal besonders überraschenden Erkenntnisse der aktuellen Finanzkrise. Verdorbenes Fleisch wird auch dann nicht mehr frisch, wenn man ihm die Boni streicht. Vergangene Erziehungsfehler müssen aber auch nicht wiederholt werden. Am Brighton College in Südengland gibt es als Pflichtfach «gutes Benehmen ». Schülern ab 13 Jahren wird einmal pro Woche beigebracht, wie man sich bei Tisch zu verhalten hat, Hemden bügelt oder ein Ei kocht. Sie werden damit für das gesellschaftliche Leben fit gemacht. Andere Wege geht man hierzulande. Im Kanton Graubünden wird demnächst das Volk darüber befinden, ob in den Schulen der Religionsunterricht zugunsten eines Ethikunterrichtes gekürzt werden soll. Dabei fussen doch die besten Erziehungsmethoden immer noch auf der Bibel. Auge um Auge, Zahn um Zahn – an dieses Prinzip hielten sich zumindest die älteren Jahrgänge, wenn sie sich in die Erziehung der Jüngeren einmischten. «Wer sein Kind liebt, der züchtigt es», heisst es in den Sprüchen Salomons. Viele Eltern verkennen die heilende Wirkung einer Kopfnuss. In den Sechzigerjahren hielten sich die Männer schon deshalb zurück, weil sie rechtzeitig vor den Folgen gewarnt wurden. Etwa damit: «Schlag nie ein Kind in Rimini, es könnte dein eigenes sein». Nein, wir brauchen natürlich keine schlagende Verbindung von überführten Vätern. Erzieherisch werden die Kinder noch immer am meisten beeindruckt vom Struwwelpeter. Die Scharia für christliche Kinder stammt vom Psychiater Heinrich Hoffmann, dessen 200. Geburtstag wir demnächst feiern. Seine Geschichten bringen es auf den Punkt: Wer lutscht, dem werden die Daumen abgeschnitten. Gemäss der allgemein gültigen Formel: Wer nicht hören will, muss fühlen. «Weh jetzt geht es klipp und klapp, mit der Scher’ die Daumen ab, mit der grossen scharfen Scher’! Hei! Da schreit der Konrad sehr.» Konrad ohne Daumen, Suppenkasper tot infolge Magersucht und Paulinchen in Flammen, weil sie mit Feuer spielt. Gut gemeint und schlecht gereimt. So holprig halt wie Schnitzelbänke in der Provinz. «Es zog der wilde Jägersmann, sein grasgrün neues Röcklein an. Er trug die Brille auf der Nas, und wollte schiessen tot den Has.» Wer heute Computerspiele dafür verantwortlich macht, dass Kinder in einer Brutalo-Scheinwelt aufwachsen und diese ausleben wollen, irrt. Millionen von Kindern lassen sich vom Struwwelpeter in den Bann ziehen genauso wie von Max und Moritz, die ziemlich rabiat zu Körnern gemahlen und von den Hennen aufgepickt wurden. Unterschätzen wir nicht unsere Kinder, wenn wir ihnen beibringen, dass sie selbst für die Folgen ihres Tuns verantwortlich sind.

Stefan Bühler

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