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Entschleunigt

«Entschleunigung» ist angesagt. Langsam, beschaulich, stressfrei den Weg durch den Alltag finden. Zu sehr verhalten wir uns wie der Hamster in seinem Rad, schnell, schneller, am schnellsten. Lieber hetzen wir dem Burnout entgegen, statt erst einmal den einfachen Herzinfarkt abzuwarten. Dieser lehrt uns das bewusste und entschleunigte Wandern in Seewis oder Gais dann, wenn es fast zu spät ist. Im Gegensatz zu diesen therapeutischen Wandermassnahmen gibt es noch die politischen Wanderungen der SVPExponenten in Nordkorea. Vielleicht hat aber Christoph Blocher das Wanderlied von Joseph von Eichendorff nur falsch verstanden, weil dort steht: «Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt». Folgerichtig wandert – wer auf linke Gunst angewiesen ist – durch den Gazastreifen. Auch jene, die weder kassenpflichtig noch politisch dahinwandern, haben inzwischen zum neuen Trend gefunden. Die neue Philosophie des Wanderns hat nichts mehr mit der Anzahl Höhenmeter und noch weniger mit Distanzrekorden zu tun. Es ist die Reaktion und der Gegenentwurf auf das Tempodiktat, dem wir täglich ausgesetzt sind. Das Kontrastprogramm zu all den Brandbeschleunigern dieser Zeit lautet ganz einfach: Durchatmen. Dass dies dringlich ist, zeigen uns die Absurditäten der schnelllebigen Zeit täglich. Goethe brauchte für seine italienische Reise bis nach Rom nur 56 Tage in einer ruckeligen Kutsche. Bald sind wir wieder so weit. Schon auf dem Weg zum Flughafen sagt der Gast zum Taxifahrer: «Fahren Sie bitte langsam, denn ich habe es eilig!» Um dann weiter vom Eyjafjallajökull für unbestimmte Zeit hingehalten zu werden, weil dieser gerade wieder mal auf Island einen Hustenanfall hat. Wer andererseits das Auto benutzt, gewinnt Zeit dank modernen Autobahnen und schnellen Autos und verliert diese gewonnene Zeit postwendend wieder wartend im nächsten Stau. Die Gotthardstrecke eignet sich als Zwangsentschleuniger genau so gut wie die A3 mit ihren potemkinschen Baustellen. Diese kilometerlangen Attrappen sollen uns eine Bautätigkeit vorspiegeln, wo keine ist. Ein Vorgänger des Geschwindigkeitswahns ist Lucky Luke und sein Gaul Jolly Jumper, die seit 1946 unterwegs sind. Der Held, der immer auf der Seite des Gesetzes steht, zieht bekanntlich seinen Colt schneller, als sein eigener Schatten das wahrhaben kann. Dann aber kam die Erfindung des Computers. Wer wurde noch nie Opfer eines Schnellschreibprogrammes, das automatisch halbangefangene Sätze zu Ende schreibt? Anstatt «Gehen wir noch auf ein Bier?» stand im SMS «Gehen wir noch auf ein Aids?». Wäre jedenfalls mit der Hermes Baby nie passiert. Diese hat uns jahrelang von jeder Hechelei kuriert. Besonders interessant die Verknüpfung modernster InternetKommunikationsmittel mit dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe aus den Jahren 1794 bis 1805. Die Briefe werden seit einem Jahr als Blog unter www.briefwechselschillergoethe. de 250 Jahre zurückversetzt in Echtzeit veröffentlicht. Bis die 1011 Briefe der beiden grossen Klassiker im EchtzeitBlog veröffentlicht sind, wird es April 2020. Das ist immer noch besser als die Praxis der Schweizerischen Post mit ihrer BZustellung – ein ärgerlicher und untauglicher Versuch zur Verlangsamung des Lebens. Verlangsamt wird dabei nur die Zustellung von A nach B. Pressant hat es heute jeder, sogar hinter beschaulichen Klostermauern mag manch einer nicht warten, bis die Knaben erwachsen sind, während andere kaum abwarten können, dass sie auch so alt werden, wie sie sich bei Giacobbo/Müller senil geben. Die Entschleunigung könnte aber tatsächlich eine mächtige Gegenideologie des 21. Jahrhunderts werden, eine Art Aufruf zum Ausstieg. Wenn man an einem Grashalm zieht, wächst er schliesslich auch nicht schneller. Warum versuchen wir es denn immer wieder?

Stefan Bühler

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