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Gurkenstaat

Zuerst der Wald, dann die Tiere und zuletzt die Menschen und für alle gilt: Es wird ausgestorben. Wer ist daran schuld? Was die Menschen betrifft, sind es wohl die medialen Pandemien, die uns regelmässig das Leben vermiesen. Der Drang zum Herbeireden von Katastrophen ist unstillbar. Wir müssen da gar nicht den Borkenkäfer bemühen, der schon längst alle Wälder gefressen hat. Die Menschheitskatastrophen sind jüngeren Datums. Vergessen sind neben dem Waldsterben der Rinderwahnsinn, die Vogelgrippe und die Schweinegrippe. Obwohl gemäss allgemeiner öffentlicher Entrüstung jedes für sich das Ende der Menschheit bedeuten musste. «Hurra, wir leben noch», Johannes Mario Simmels Buchtitel ist 36 Jahre alt und nach wie vor aktuell.
Die Ehec-Krise ist ein weiteres Beispiel in der Reihe der irrationalen Aufgeregtheiten, auch wenn sie schon abklingt, bevor wir uns an den Namen gewöhnt haben. Alles ist offenbar eine Frage der Gewöhnung. Dass in Deutschland zehn Menschen im Strassenverkehr sterben und mehr als 1000 verletzt werden – pro Tag wohlverstanden – ist keine Schlagzeile wert. Zehn Tote forderte übrigens auch der Strassenverkehr in der Schweiz am Osterwochenende. Die Schlagzeilen aber blieben den Tomaten, dem Kachelmann und anderen Gurken vorbehalten.
Wenn nuschelnde Radiomoderatoren vor einer sich ausbreitenden «Ehe-Krise » warnten, konnte man das noch verstehen, mit Ehec aber ist nicht viel anzufangen. Sagte jedenfalls die Gurke, bevor sie sich vor Lachen krümmte. Gemäss EU-Verordnung durfte sie das auf zehn Zentimetern Länge um höchstens zehn Millimeter.
Wird also wieder ein Ehec-Toter gemeldet, dann verrät dessen Biografie mehr, als den Katastrophenpropheten lieb ist. Kann durchaus vorkommen, dass der Verstorbene über die wenig idealen Masse 90–40–30 verfügt. 90 Jahre alt, 40 Grad Grippefieber und 30 Erben in der Warteschlange. Selbst wenn er kurz vor seinem Ende noch Gurkensalat zu sich nahm, ändert das nichts an der Tatsache, dass er ganz klassisch an Altersschwäche verstarb. Aber statistisch gesehen besser in die Ehec-Opferliste passt.
Sogar die Griechen verlassen sich nicht mehr auf den Einfluss der Gurken auf die natürliche Altersfluktuation. Sie prüfen jetzt nämlich, wer von den über Hundertjährigen, die monatlich ihre Altersrente bekommen, noch lebt. Gurke hin, Tomate her. Auf diese Idee ist man in Athen gekommen, nachdem festgestellt wurde, dass etwa 4500 längst verstorbene Beamte nach wie vor ihre Rente erhalten. Das Problem wird nach Art der Griechen mit einem Kompromiss gelöst: Künftig wird die Rentenauszahlung im Einverständnis mit den Gewerkschaften auf 20 Jahre nach dem Tod eines Beamten begrenzt. Das hört sich hart an, erinnert uns aber wieder einmal daran, dass es ohne Griechen keine Philosophie, keine olympischen Spiele, keinen Marathon und keine bemalten Vasen mit nackten Schönheiten gäbe. Und auch keine Gurkenstaaten.
Ausgerechnet die Gurke, die Unschuld in Person. Was hat man ihr nur angetan, um die Epidemie am Kochen zu halten! Ende der Sechzigerjahre lautete der Hauptslogan bei den Zürcher Globuskrawallen: «Macht aus dem Staat Gurkensalat!» Was den damals Bewegten nicht gelang, schaffen inzwischen die Parteien locker, wenn sie über Kernkraftwerke, Bundesanwälte und Helmtragpflicht debattieren. Dabei ist die Gurke seit Menschheitsgedenken Freund und manchmal auch Helfer in der Not. Jedenfalls ist von Kaiser Tiberius überliefert, dass er seine Gurkenbeete mit Rädern versah, damit sie in die Sonne gefahren werden konnten.
Die Gurke aber ist immer der Schurke, auch wenn es die Sprossen sind. Das haben wir den Amerikanern zu verdanken, die aktuell Kuba, Sudan, Iran und Syrien der Gruppe der Gurkenstaaten zuteilen. Oder sind das die Schurkenstaaten? Angesichts all dieser Gurkenszenarien bleibt uns nur, nochmals Simmel mit einem weiteren Buchtitel zu zitieren: «Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.»

Stefan Bühler

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