Von Bild zu Bild
- Jahrhundertsprünge Von Bild zu Bild - Jahrhundertsprünge Blenden wir 100 Jahre oder 36 500 Tage oder 876 000 Stunden oder 52,5 Millionen Minuten zurück: Chur zählt rund 11 500 Einwohner. Die Stadt reicht nur wenig über die Bahnlinie hinaus Richtung Rheinwiesen, die den Kühen gehören, und das Trassee der Rhätischen Bahn führt entlang der heutigen Oberalpstrasse. Die vornehmen Quartiere sind Gäuggeli, Schlangengasse (Aquasanastrasse), Plessurquai, Loëstrasse und Lürlibad. Das Altstadtgebiet, Winterberg, Welschdörfli, Sägenstrasse, Calandastrasse und Scharfrichtergässli gehören den gewöhnlichen Sterblichen, der Sand ist das Ghetto der Italiener. Im Rätischen Volkshaus, wo anlässlich der Calvenfeier (1899) noch Bundesräte, Richter und Regierungsräte logiert hatten, gehen jetzt einfache Leute, Bettler und Einwanderer ein und aus. Der Damen-Turnverein und der Bündner Kunstverein werden gegründet und beim Bahnhof wird das neue Hotel Steinbock gebaut. Im Postbüro Chur arbeiten 45 Beamte und 80 Angestellte und an der Grabenstrasse wird das Fontanadenkmal erstellt. Das Geld für den Lebensunterhalt erarbeitet man sich in Industriebetrieben wie Giesserei, Wollspinnereien, Brauereien, Teigwarenfabrik, Kunstmühle, Ziegelei, Gasfabrik und in Berufsklassen mit der Bezeichung «Veredlung der Natur- und Arbeitserzeugnisse»: Damen- und Herrenschneiderei, Architektur- und Hochbauunternehmung, Maurerei, Schreinerei, Wäscherei, Buchdruckerei, Strickerei usw. Die Feierabendstunden verbringen die ChurerInnen im Umfeld von 98 Vereinen, vom Katholischen Jungfrauenverein über den Dramatischen Verein bis zum Männerchor Frohsinn. Gastwirtschaften und Cafés sind Treffpunkte der ganzen Bevölkerung, während die Schenkwirtschaften nur eine Attraktion bieten: «den Alltag im Alkohol zu ertränken». Ein grosser Teil der Geschäfte führt die 10-stündige Arbeitszeit ein, die Brauer und Holzarbeiter bilden Gewerkschaften und die Bevölkerung von Chur stimmt dem Bau der Kanalisation zu Das war Chur vor 100 Jahren Chur jetzt besteht aus rund 30 000 Einwohnern und knapp 9000 Handys. Die Rheinwiesen sind überbaut und die wenigen Kühe werden in den wenigen Ställen vollautomatisch gemolken. Pferdeäpfel auf den Strassen gibts nur noch nach der 1. August-Feier und die Italiener leben längst nicht mehr im Ghetto. Sie haben sich mit den Hiesigen vermischt und sind ChurerInnen geworden. Andere sind «an ihre Stelle» gerückt. Vor dem ehemaligen Volkshaus wartet man seit zwei Jahren vergebens auf das grosse Glück und das Fontanadenkmal wird kaum mehr beachtet. Auf dem Postplatz dreht sich der Verkehr und die Fussgänger missachten das Rotlicht. Das Hotel Steinbock am Bahnhofplatz hat 1964 moderner Städtearchitektur Platz machen müssen. |
ChurerInnen treffen sich weiterhin in Gasthäusern und Cafés und die Schenkwirtschaften sind «salonfähig» geworden. Die noch wenigen handwerklichen Betriebe geben sich Mühe, über die Runden zu kommen. Die Wäschereien sind ersetzt durch Waschmaschinen und Tumbler in der eigenen Wohnung, wo das Fehlen eines Computers ein Armutszeugnis ist. Man arbeitet beim Kanton, bei Gasser, ist Jurist, EDV-Spezialist, Berater für irgend etwas oder angestellt in einem Dienstleistungsbetrieb. Aus der Altstadt hat man den Verkehr verbannt - wie vor 100 Jahren schon einmal flächendeckend aus Graubünden. Das Churerdeutsch hat überlebt, auch wenn das «Churlish» (Chur-Englisch) dem «huara Glünggi» an die Grundfeste geht Die Churer Bildsprünge über 100 Jahre verdanken
wir Ernst Zschaler, der uns Trouvaillen aus seiner Postkartensammlung für die
Gegenüberstellung zur Verfügung gestellt hat. Ein Teil seiner Sammlung ist im Verlag
Engadin Press erschienen unter dem Titel «Gruss aus Chur». |