Das Dorf in der Stadt Das «Täli» ist ein Schattenloch, im «Täli» hausen die
Jenischen. Diese Vorurteile vieler Churerinnen und Churer haften immer noch am
südlichsten Stadt-Quartier. Doch weit gefehlt: Die Wohnqualität ist weit besser als ihr
Ruf, der Zusammenhalt unter den Bewohnern ist beispielhaft und kaum jemand aus dem
«Täli» sehnt sich danach, vom «Dorf» in die Stadt zu ziehen.
Er signalisiert die Grenze zwischen der Stadt und dem
«Täli»: der «Wiibersprutz». Von St. Hilarien her fliessend ergiesst sich das Rinnsal
als Wasserfall über die hohe, von Bäumen und Sträuchern bewachsene Böschung in die
Plessur. Bis nach «Texas» sind es rund 1,5 km. So lang ist das «Täli» oder anders
ausgedrückt das Quartier namens Sand. Mit «Texas» ist der Meiersboden gemeint. Warum er
so genannt wird, weiss niemand so recht, auch Max Frangi nicht, Tälibewohner seit knapp
20 Jahren: «Vielleicht, weil Texas auch jenseits einer Grenze liegt, wie der
Meiersboden.» Der gehört nämlich zu Churwalden. Aber das kümmert die, die dort hinten
wohnen kaum, ausser, dass das Couvert mit der Steuerrechnung aus der Gemeindekanzlei
Churwalden stammt. Max Frangi stört es auch nicht, dass vorne in der Stadt dem Täli
immer noch das Image der Ärmlichkeit angehaftet wird. Tatsächlich war das Quartier
einmal das Armenhaus von Chur, abgelegen am Laufe der Plessur, wo die Römer im ersten
Jahrhundert nach Christi Geburt die Mühlbäche fassten. Lange Zeit war der Sand das
Ghetto der Italiener, galt als minderes Quartier und wurde gar als Brutstätte der
sogenannten «Pöbelstadt» bezeichnet. Mitte des vorletzten Jahrhunderts errichtete die
Stadt auf dem Sand, am linken Ufer der Plessur, ein Haus, in dem bedürftige Familien und
Alleinstehende unentgeltlich wohnen konnten. Zu den sozialen Einrichtungen zählte auch
das private Krankenasyl im Sand.
Infrastruktur verbessern
Das ist längst passé. Entlang des Kupferschmiedewegs, im Seidengut, im
Meiersboden und an der Sassalstrasse sind Wohngebiete entstanden, von deren Qualität
längst nicht alle, die vorne in der Stadt hausen, wissen, und wohin sich die Städter
höchstens auf einem Spaziergang verirren. Gegen 120 Haushaltungen vereint der Talverein
Sand-Meiersboden, kurz «Täli-Verein». Mit Mitgliedern aus Churwalden und Chur ist er
der einzige grenzübergreifende Quartierverein der Stadt. Gegründet wurde er, um die
städtischen Behörden auf die schlechten Infrastrukturen aufmerksam zu machen. Als
nämlich die gesamte Stadt schon mit Strassenbeleuchtungen versehen war, herrschte hinten
noch grösstenteils Dunkelheit. Der pensionierte Max Frangi war damals Präsident des
Talvereins und hatte als Stellvertreter des Strassenmeisters bei der Stadt einen direkten
Draht zu den Verantwortlichen. «Es brauchte aber schon einige Interventionen und viel
Geduld», erinnert sich der heutige Ehrenpräsident, «bis das Täli endlich mit einer
anständigen Beleuchtung versehen wurde.» Der eigentliche Zweck des Talvereins,
bestätigt auch die heutige Präsidentin, Olga Demarmels, sei die Förderung und Wahrung
der allgemeinen Interessen des Einzugsgebietes auf gemeinnütziger Basis. Dazu gehört
auch die Erschliessung des hintersten, in einer Sackgasse endenden Quartiers mit
öffenlichen Verkehrsmitteln. «Man kann sich kaum vorstellen, was es gebraucht hat, bis
die Stadtbuslinie endlich bis zum Meiersboden geführt wurde», erklärt sie. Noch immer
ist im Vorstand der Bus ein Dauerthema. Die Verbindungen seien, in Anbetracht der rund
zwei Dutzend schulpflichtigen Kinder, die vorne in der Stadt ausgebildet werden, völlig
ungenügend und nur schlecht auf ihre Schulzeiten abgestimmt. So sind es meist die Eltern,
die den Transport organisieren oder die Kinder bewältigen den Schulweg mit dem Fahrrad.
«Eine nicht gerade beruhigende Situation», meint Olga Demarmels, «denn dass unser
Quartier auf innerstädtischem Gebiet liegt und somit auch hier Tempo 50 gilt, wird von
vielen Automobilisten ignoriert.» Dazu komme, dass der im Projekt der
Arosabahn-Untertunnelung bewilligte Bau des Trottoires bis zum Meiersboden gestrichen
wurde. Man sei im Vereinsvorstand immer noch daran, die Stadt von diesem für die Kinder
unzumutbaren Umstand zu überzeugen, und dass der Gehsteig wenigstens bis zur
Plessurbrücke erstellt werde.
Aktivster Quartierverein von Chur
Trotz dieser seit vielen Jahren anstehenden Probleme ist das Täli ein ideales
Wohnquartier mit einem ländlichen Charakter. «Ein Dorf in der Stadt», nennt es Max
Frangi. Und dörflich ist auch der Zusammenhalt unter den Bewohnern. «Wenn die jährliche
Generalversammlung des Talvereins ansteht, werden rund 150 Haushaltungen angeschrieben»,
erklärt Olga Demarmels. Darunter sind auch viele, die gar nicht mehr im Täli wohnen,
aber trotzdem Mitglieder sind. Dass der Talverein Sand-Meiersboden der wohl regsamste
Quartierverein von Chur ist, belegen die vielen Aktivitäten, die den Zusammenhalt der
Bewohner fördern. Vor einigen Jahren wurde ein eigener Kinderspielplatz ins Leben
gerufen, regelmässig werden Altersnachmittage veranstaltet, der Verein beschenkt
Seniorinnen und Senioren jeweils an ihren Geburtstagen, Krankenbesuche werden organisiert,
jeden Dienstagabend ist das Hallenbad in der kantonalen Sportanlage Sand für den
Talverein reserviert, und Familienpicknicks werden veranstaltet. Dass der Talverein auch
für Ordnung in der Umgebung sorgt, belegt die jährliche Säuberungsaktion der Wanderwege
auf dem Täli-Gebiet. Die nächste gemeinschaftliche Reinigung findet am 6. Mai statt. Den
Jahreshöhepunkt bildet jeweils das Sommernachtsfest, das heuer am 17./18. Juni
stattfindet. An dieser öffentlichen Veranstaltung mit Tombola, Festwirtschaft,
Schiessbudenbetrieb usw. wird jeweils die Vereinskasse auf Vordermann gebracht. Zusammen
mit den Mitgliederbeiträgen von 20 Franken pro Haushalt werden dann die verschiedenen
Jahresaktivitäten bestritten. In diesem Jahr planen die Verantwortlichen für das
Sommernachtsfest eine Talentbühne für Jungmusikanten jeden Stils. Wer also im Täli live
auftreten will, kann sich bei Olga Demarmels melden (Telefon 253 51 50).
Über ein Dutzend Gewerbebetriebe
«Im Täli», erklärt die Vereinspräsidentin, «kommt jeder jedem entgegen.»
Das beschränkt sich nicht nur auf Hilfeleistungen wie Transporte, Einkäufe in der Stadt
usw., sondern auch auf Leistungen der verschiedenen zwischen dem «Wiibersprutz» und
«Texas» ansässigen Betriebe. Und das sind nicht wenige. Die Kupferschmiede, die
Münzstätte - wo einst Blutzger und Batzen für den Bischof und die Stadt geprägt wurden
- und die Baumwollspinnerei im Meiersboden gibt es zwar nicht mehr. Dafür hat sich das
Baugeschäft Cenci und die Transportunternehmung Marugg hier niedergelassen, für
Fahrradreparaturen sorgt Velo Graf, Kupferantiquitäten bietet Albert Graf und die
Pelzzurichterei Zahnd ist nicht nur bei Jägern ein Begriff. Wer seine Vierbeiner (Katzen
und Hunde) in die Ferien schicken will kann das in der Tierpension Sassal, und der Kunst
verschrieben hat sich nicht nur Modellbauer Theo Morf mit seiner «Modelart» sondern auch
Doris Baumgarner mit ihrer Töpferei. Nicht zu vergessen ist natürlich das Restaurant
Meiersboden, das nicht nur Quartierbeiz ist, sondern wo auch für das leibliche Wohl ins
Täli «verirrter» Churerinnen und Churer aus dem weniger ländlichen Teil der Stadt
gesorgt wird. Was man im «Meiersboden» nicht mehr bekommt, ist der «Sändeler
Riesling». Die einstige Weinsorte aus dem Sand, die bei der ehemaligen Kupferschmiede
angebaut wurde, belegt aber, dass das Täli kein Schattenloch sein kann - denn wo
Rebstöcke gedeihen muss auch die Sonne scheinen.
Walter Schmid |