Saftige Weiden für
Churer Kühe in Arosa Die Ferienzeit hat begonnen - auch für rund 400 Churer Kühe. Sie verbringen den Sommer in Arosa, auf den Kuhalpen Maran, Sattel, Carmenna und Prätsch, die seit dem 15. Jahrhundert von der Stadt Chur nach und nach erworben worden sind. Es ist Mitte Juni. Das Glockengeläut früh morgens in der Ringstrasse kündet den Alpsommer der Churer Kühe an. Die Herde des Landwirtes Hanspeter Gisler biegt in die Salvatorenstrasse ein und wird am alten Schlachthof vorbei zur Verladerampe der Rhätischen Bahn geleitet. Einige der Tiere sind in heller Aufregung, lassen fallen, was als «Kuhtaische» liegenbleibt, kehren um und wollen zurück in den vertrauten Stall beim Rheinfels. Andere, denen an ihrem Verhalten Abgeklärtheit und eine gewisse Routine anzumerken ist, wissen aus Erfahrung wos lang geht: in den Extrazug, durchs Schanfigg und auf die saftigen Weiden der Churer Alp Maran in Arosa. Sie lassen sich ohne grosse Mühe in die Viehwagen führen, im Gegensatz zu den Neulingen. «Man sollte ihnen Skateboards anziehen», lautet ein Ratschlag für ein zukünftig speditiveres Verladeprozedere. Mit aufmunterndem Zureden, freundlichen Lockrufen und wo nötig mit vereinten aber dosierten Kräften gelingt es schliesslich den Landwirten, die insgesamt 60 Kühe von Hanspeter Gisler, von Georg Aliesch, von Hans Jehli, von Andreas Eggenberger und von der Viehhandlung Ebneter AG im Reisezug unterzubringen. Nicht alle sind alptauglich Organisiert und in die Wege geleitet wird der Bahntransport durch den Alpmeister Hanspeter Gisler, der dieses Amt auf Maran bereits den 29. Sommer inne hat. «Anfang der Siebzigerjahre», erinnert er sich, «war der Viehbestand in Chur etwa gleich wie heute, jedoch verteilt auf zirka 40 Bauern.» Mit Passugg und Araschgen zusammen gibt es in Chur noch 21 landwirtschaftliche Betriebe. Siebzehn davon sind auch Milchproduzenten mit insgesamt rund 600 Kühen. 404 davon sind «alptauglich» und verbringen den Sommer auf den vier Churer Alpen Maran, Sattel, Carmenna und Prätsch in Arosa. Die restlichen 200 sind von ihrer Konstitution her oder aus gesundheitlichen Gründen für den Sommer auf der Alp ungeeignet oder sie befinden sich nicht in der idealen Laktationszeit, d. h. sie haben zu spät gekalbert. Während früher der Weg nach Arosa auf einem rund siebenstündigen Marsch mit Überwindung von etwa 1600 Metern zu Fuss via die Ochsenalp zurückgelegt wurde, erfolgt der Transport der Churer Kühe heute in Camions oder mit der RhB. Angewöhnen, einstallen, nummerieren Rund eine Stunde dauert die Reise. Um 11.15 Uhr werden auf dem Bahnhof Arosa die Riegel der sechs Viehwagen geschoben und für die 60 Churer Kühe beginnen damit die rund drei Monate dauernden Ferien auf Maran. Angeführt vom Hirten Ruedi Item, seitlich und rückwärtig von den Tierbesitzern gesichert, wird die Herde am Obersee vorbei in den lichten Wald getrieben. Nach dreistündigem ungestörtem Genuss der saftigen Gräser und langsamem Aufstieg trifft die Herde in Maran ein - das für die Churer Bauern, die Hirten und die Tiere schweisstreibende Einstallen kann beginnen. Auch hier zeigt sich der Unterschied zwischen den routinierten und den unerfahrenen Kühen. Die einen trotten gemächlich aber zielstrebig in den Stall und finden selbst ihren letztjährigen Platz, den anderen ist die noch fremde Umgebung ungeheuer und entsprechend ihr nervöses, ängstliches und bockiges Verhalten. Um 17 Uhr kehrt Ruhe ein im Stall, die nur von gelegentlichem Muhen, ein paar Glockenklängen und dem leisen Surren des Rasierapparates unterbrochen wird. Hanspeter Gisler ist daran, jede Kuh mit ihrer Nummer zu markieren. Das gehört ebenso zur Pflicht des Alpmeisters, wie beispielsweise die Rekrutierung und Betreuung des Alppersonals, die Erstellung der Alprechnung, die Zusammenarbeit mit der Churer Alpverwaltung - die u. a. für den Unterhalt der Gebäude und Wege zuständig ist - oder die Einteilung der Weiden, die lange vor der Alpbestossung mit dem Maran-Hirten Ruedi Item geregelt wurde. EU-taugliche Sennerei Wie auf allen Churer Alpen in Arosa wird auch auf Maran das Weidepflegeprojekt durchgeführt. Denn das ganze Alpgebiet ist in sechs Nachtweideschläge, acht Tagweideschläge und die Hochsommerweide eingezäunt. Ist ein Weideschlag «geräumt», wird in den nächsten disloziert. Dadurch wird die Alpnutzung optimiert und die Alpenflora geschont. Die Weideeinteilung schlägt sich auch direkt auf die Milchqualität nieder. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das Vieh in einwandfreiem Gesundheitszustand ist, was jeder Bauer mit einem ärztlichen Zeugnis vor der Alpung belegen muss. Die hohe Qualität der Alpenmilch von Maran, Sattel, Carmenna und Prätsch zeigt sich besonders im vorzüglichen Churer Alpkäse. Die Milch aller vier Alpen fliesst in die Sennerei Maran, die 1991 mit einem Aufwand von rund 1,5 Millionen Franken renoviert wurde. Sie ist die einzige Sennerei in Graubünden, die über eine EU-Nummer verfügt und somit Käse für den Export produzieren kann. Bereits den fünften Sommer stehen heuer Senn Paul Wyss und Zusennin Stefi Ardüser am Käserbecken. Während bis anhin rund 120 000 kg Milch pro Alpsommer abgeführt und verkauft wurden, wird in diesem Sommer erstmals der gesamte Milchanfall von 360 000 kg in der Sennerei Maran verarbeitet. Daraus ergeben sich - neben Butter und Rahm - 35 Tonnen Käse, das sind 7000 Leiber à 5 kg. Hauptabnehmer und Verteiler ist die Winkler Käse- und Molkereiprodukte AG, bekannt unter dem Namen «Chäs-Fritz» in Chur, wobei jeder Bauer natürlich seinen Eigenbedarf deckt und via Hof-Verkauf den Churer Alpkäse auch veräussert. Bereits am ersten Alptag läuft in der Sennerei Maran die Produktion an. Denn nach der Einstallung und Markierung der Kühe wird erstmals gemolken. Dann gehts hinaus auf die erste Nachtweide. Der Tag danach - und alle folgenden bis gegen Ende September - beginnt für die Hirten früh. Etwa um 4 Uhr morgens werden die Kühe vor den Stall getrieben, an ihre Plätze gebracht und gemolken. Drei Stunden später beginnt die Tagweidezeit, die bis zirka 16 Uhr dauert. Dazwischen werden durch die Hirten das Milchgeschirr, die Gerätschaften und der Stall gereinigt. Zu den Aufgaben der Älpler gehört aber auch die Beobachtung des Viehs tagsüber, die Instandhaltung der Zäune, die Vergewisserung, dass auf dem jeweiligen Weideschlag Wasser fliesst und, etwas vom Wichtigsten, die Euterkontrolle, die während der Melkung durchgeführt wird. Bei Anzeichen von Erkrankung wird das Tier im Stall behalten, gepflegt und wenn nötig einer veterinärärztlichen Untersuchung unterzogen. Feierabend für die Hirten ist erst nach der Entlassung der Kühe auf die Nachtweide um zirka 19.00 Uhr. Churer Maiensäss In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zählte Arosa etwa 140 Einwohner, die über Wiesland für zirka 140 und Alpweiden für rund 400 Kühe verfügten. Die vorhandenen Weiden überstiegen ihren Bedarf bei weitem und die innerhalb von zwei Genossenschaften aufgeteilten Kuhrechte konnten leicht an die Städte Chur und Maienfeld, an Private und an das Bistum Chur verkauft werden. Heute hat sich das, was vor über 500 Jahren begann, zum Nutzen aller Parteien entwickelt. Der klugen und weitsichtigen Bodenpolitik, die die Bürgergemeinde Chur von Anfang an betrieben hat, verdankt Arosa in grossen Teilen sein heutiges Aussehen und seinen bedeutenden Rang als Winter- und Sommerferienort. Die gepflegten und gut erschlossenen Churer Alpen stellen auch eine willkommene Bereicherung des touristischen Angebotes dar. Die Wege werden täglich von Hunderten von Wanderern begangen, welche die herrliche Berglandschaft geniessen. Wo sonst gibt es mitten auf einer Alp einen Golfplatz, der auch noch als Abendweide genutzt werden kann? Die Carmennahütte: im Sommer eine Alp mit 120 Kühen, im Winter ein weltbekanntes Bergrestaurant mit Millionenumsatz, das von der Stadt Chur betrieben wird. Die daraus resultierenden Erträge fliessen zusammen mit denjenigen der Bergbahnen, deren Anlagen grösstenteils auf Boden der Bürgergemeinde Chur stehen, in die Stadtkasse und kommen so allen Bürgern und Nichtbürgern zugute. Ausgezeichnete Churer Alpen Diese Doppelnutzung schränkt den Alpbetrieb etwas ein. Für die Bürgergemeinde Chur hat dieser aber nach wie vor erste Priorität, so lange die Churer Alpen in Arosa von der Churer Bauernsame benötigt werden. Die Zweifachnutzung hat auch Vorteile, denn dank der zusätzlichen Einnahmen können die Alpen immer tadellos unterhalten werden. So wurde die Bürgergemeinde Chur bereits im Jahre 1946 «für die sehr guten Einrichtungen und mustergültige Bewirtschaftung der Chureralpen» mit einem Diplom des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Vereins ausgezeichnet. Wenn in längst vergangenen Zeiten die gegenseitigen Interessen oft kollidierten, so sind jetzt beide, Arosa und Chur, an einem blühenden Tourismus interessiert. Davon zeugen zahlreiche Verträge der Bürgergemeinde Chur mit der Gemeinde Arosa, dem Kurverein und den Arosa Bergbahnen. Die Papiere sind Garant dafür, dass sich die «Stadtkühe» auch in Zukunft auf dem Churer Maiensäss in Arosa jeweils im Sommer erholen und stärken können. «Denn der Alpsommer in Arosa mit den vorzüglichen Weiden und der optimalen Nutzung», sagt Alpmeister Hanspeter Gisler, «wirkt sich nachhaltig auf den Gesundheitszustand und die Lebenserwartung des Viehs aus.» Die während drei Monaten aufgebaute Kondition der Kühe führt dann auch dazu, dass er mit seiner Herde im Herbst nicht den Zug in Arosa besteigen wird. «Wir ziehen dann, der alten Tradition folgend, über die Ochsenalp, via Tschiertschen und Praden zu Fuss heimwärts.» Walter Schmid (Quelle: Enrico Giacometti, |