Alpendohlen |
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Akrobatische und schlaue Wintergäste in Chur Eigentlich liegt ihr Lebensraum in den hohen Bergregionen. Weil sie aber keine Kostverächter sind, besuchen sie seit Jahrzehnten in den Wintermonaten tief gelegene Siedlungsgebiete und erquicken sich an menschlichen Nahrungsresten, Früchten und Obst: die Alpendohlen, Singvögel, deren Akrobatik und Schlauheit kaum zu überbieten ist. Im strengen Winter 1928/29 soll es gewesen sein, als erstmals die in Höhenlagen von bis zu 4000 m lebenden Alpendohlen in Chur gesichtet wurden. Seither ist die Stadt zu einem wichtigen Futterplatz geworden, der ihnen hilft, sich vor allem durch die härteste Jahreszeit zu retten. Jeweils kurz vor oder nach Sonnenaufgang verlassen die Vögel in mehreren geschlossenen Formationen ihre Standgebiete am Hochwang und Calanda und stürzen mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 km/h talwärts. Der Churer Erwin Hofmänner, seit vielen Jahren aktives Mitglied beim Vogelschutzverein Chur, will in diesem Winter den Bestand der beiden «Völker» erneut aufnehmen. Seine letzte Zählung liegt zehn Jahre zurück und diente der Schweizerischen Vogelwarte Sempach zu statistischen Zwecken. Damals zählte Hofmänner rund 100 dem Hochwang-Schwarm zugehörige Dohlen und gegen 530 vom Calanda. Letztere bevorzugen das Rheinquartier für ihre Streifzüge, während jene vom Hochwang eher die obere Stadthälfte durchstöbern. Nichts ist sicher vor den Allesfressern Alpendohlen zählen, wie alle Rabenarten, zu den intelligentesten Vögeln mit ausgeprägtem Sozialverhalten. Das drückt sich in einer festgelegten Rangordnung aus und bedingt, dass sich die Dohlen innerhalb ihres Schwarmes persönlich kennen. In der Stadt eingetroffen werden zuerst «Spione» auf die Suche nach Nahrung losgeschickt. Mit lauten Pfiffen wird der Fund signalisiert, wobei sich als Erste die ältesten Tiere über die «Beute» hermachen dürfen. Gefressen wird dabei alles, was irgendwie zu verdauen ist. An Hausfassaden klebend picken sie Mörtel und Kleintiere aus den Ritzen, plündern Komposthaufen, laben sich an nicht gelesenem Obst, spazieren auf den Strassen herum und schrecken selbst vor weggespuckten Kaugummis nicht zurück. Erwin Hofmänner beobachtete eines Tages eine einzelne Dohle in der Nähe seines Arbeitsplatzes an der St. Margrethenstrasse. Tags darauf seinen mehr als zehn Tiere über die dort wild wachsenden Reben hergefallen. Hofmänner vermutet, dass die Dohlen bevorzugte Fressplätze in ihrem Gedächtnis registrieren und jeweils Späher vorausschicken, um Lage und Angebot auszukundschaften. Schlimmer als den Trauben erging es einer Hausfrau in Chur, die den frischgebackenen Käsekuchen zum Auskühlen auf den Balkon stellte. Ein «Späher»-Pfiff und fünf Minuten später hatte die herbeigerufene Schar Dohlen das Mittagessen restlos aufgefressen. |
Ein besonderer Fall von Dohlenfresslust ist aus dem Glarnerland bekannt, wo die Schwarzfräcke 15 Kilogramm Fensterkitt von einem Fabrikneubau verspeist haben. Dass die Dohlen längst nicht mehr nur an kalten Tagen Früchte der Talschaften auf ihren Speisezettel schreiben, hat Hofmänner ebenfalls beobachtet. «Ein ganzer Schwarm flatterte an einem Morgen im Mai in einem Laubbaum im Rheinquartier», weiss er zu berichten. Irgendwie hätten die vom Calanda stammenden Dohlen wohl erfahren, dass Maikäferzeit sei. Den vegetarischen Gusto befriedigen sie vorzugsweise mit Kirschen, Holunder, Himbeeren, Trauben und Vogelbeeren. Kunstflieger par excellence Allein schon die Luftkapriolen, welche die Dohlen beim Anflug auf ein mit Brotbrocken belegtes Fenstersims vollführen, weckt den Neid eines jeden menschlichen Kunstfliegers. Das hat vor Jahren Urs Brückmann aus Davos während seiner Studie über die Dohlen erfahren. Um ihr Verhalten natürlichen Feinden wie Habicht oder Sperber gegenüber zu studieren, steuerte er ein Modellflugzeug in einen Schwarm. «Anfänglich versuchten einzelne Vögel das Flugzeug zu entern», berichtet er. «Als der simulierte Feind Loopings vollführte, probierte eine Dohle nach der anderen, das gleiche Kunststück nachzuahmen.» Monogame Ehepaare Täglich um die Mittagszeit verlassen die Alpendohlen wieder die Stadt. Die Schreie ranghoher Tiere signalisieren laut Brückmann zum Aufbruch. Der Hochwang-Schwarm, so Beobachtungen von Hofmänner, besammelt sich jeweils auf dem Hof beim Priesterseminar, jener vom Calanda auf zwei Hochhäusern im Rheinquartier. Es kann vorkommen, dass einzelne Tiere oder kleine Gruppen dem falschen Schwarm folgen, den Irrtum aber bemerken, umkehren und den Ihrigen nachfliegen. Beim Steigflug unter Ausnützung der Thermik überwinden die Dohlen Höhen von bis zu 1900 m und Distanzen von über 12 km. Oben angekommen verteilen sich die Vögel nach einer kurzen gemeinsamen Rast zu ihren Schlaf- und Brutplätzen. Jeweils in den Monaten März und April werden in engen, unzugänglichen Felsnischen die Nester gebaut. In zunehmendem Masse errichten sie ihre Gelege in Kunstbauten wie Alphütten, Bergbahnstationen und Tunnels. Pro Nest brütet das Weibchen, das ihr ganzes Leben lang mit dem gleichen Mann «verheiratet» ist, innert 18 Tagen drei bis fünf Eier aus. Fortschreitende Anpassung Beobachtungen von Alpendohlen in der ganzen Schweiz zeigen, dass ihre Verstädterung weiter im Zunehmen begriffen ist. Zwar nisten sie noch nicht in der Stadt, wie die einst im Wald heimischen Amseln. Sie sind jedoch in Chur schon während mehr als sieben Monaten im Jahr anzutreffen. An Verkehrslärm und Menschen haben sie sich schon so weit gewöhnt, dass sie mitten in der Altstadt zwischen den Tauben spazieren gehen. Walter Schmid |