Stadtarchiv |
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Das Gedächtnis von Chur Reservoir für die historische Forschung Das Stadtarchiv von Chur birgt eine Fülle von Erinnerungen. Es ist jenes Gedächtnis, das die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart und die Zukunft zu schlagen vermag. Mit dem wohlgeordneten «Sammelsurium» der Erinnerungen wird deshalb weit mehr als «nur» die Stadtgeschichte dokumentiert. Die Büros des Stadtarchivs, untergebracht im Churer Rathaus, wirken äusserst aufgeräumt. Doch die Ordnung täuscht nicht darüber hinweg, dass das Stadtarchiv samt den dazugehörigen Archivräumlichkeiten fast aus allen Nähten platzt. Seit dem 15. Jahrhundert befindet sich das Archiv am selben Ort, lediglich zwei Räume auf der anderen Seite des Gebäudes sind dazugekommen. Heute ist auf einer Fläche von rund 80 Quadratmetern untergebracht, was Stadtarchivarin Ursula Jecklin als «das Gedächtnis der Churer Stadtverwaltung» bezeichnet. Im Stadtarchiv Chur findet sich vor allem Material ab dem 16. Jahrhundert. Die älteste hier aufbewahrte Urkunde datiert aus dem 13. Jahrhundert. Dokumentiert wird indes nicht allein die Ortsgeschichte. «Das Archiv», so Ursula Jecklin, «ermöglicht ebenso Studien zur Mentalitätsgeschichte, zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie zur Geschichte der Zivilisation und zum Alltagsleben.» Es stellt also eine wahre Fundgrube der Erinnerungen dar. Und es ist ein Quellenreservoir für die historische Forschung. Das Archiv schlägt jedoch auch eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und den Erwartungen an die Zukunft. «Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann in der Gegenwart einigermassen souverän handeln», ist in einer Publikation über die «Archive in der Schweiz» nachzulesen, ebenso wie der Satz: «Erinnerungsarbeit stiftet im individuellen und kollektiven Leben Identität.» Ursula Jecklin sieht es denn auch als öffentliche Aufgabe an, das Erinnern zu ermöglichen. Was wird vernichtet, was nicht? Gearbeitet wird hier allerdings längst nicht mehr mit Filzpantoffeln und Ärmelschonern. Ursula Jecklin, ausgebildete Germanistin und Historikerin, weiss den Umgang mit dem Computer durchaus zu schätzen. Sie und ihre beiden Mitarbeiterinnen, die sich gemeinsam 1,5 Stellen teilen, haben anspruchsvolle Aufgaben zu erfüllen. Zu den wichtigsten Aufgaben zählt es, Material zu sammeln, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen und die gesammelten Dokumente, Protokolle, Akten, Urkunden, Pläne, Fotos und Stiche schliesslich zu erschliessen, das heisst, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Weil die Stadtarchivarin nicht sämtliches Material archivieren kann, steht sie zwangsläufig vor der täglichen schwierigen Aufgabe, zu entscheiden, was vernichtet wird und was nicht. «Archiviert werden kann lediglich vier bis zehn Prozent des gesamten Materials». Für die Stadtarchivarin heisst dies nichts anderes, als dass sie einerseits über ein ausgeprägtes historisches Wissen verfügen, anderseits aber auch über die aktuellen Ratsgeschäfte, über politische und weitere gesellschaftlich relevanten Begebenheiten Bescheid wissen muss. Der Entscheid, was aufbewahrt wird und was nicht, ist u. a. abhängig von der Relevanz der Daten, den Recht schaffenden Unterlagen (Verträge, Gesetze, usw.) und den geschichtlich relevanten Dokumenten. Geschichte, die Wurzeln der Gesellschaft «Was immer man auch wegwirft, könnte für die Geschichtsschreibung gravierende Folgen haben.» Ursula Jecklin denkt dabei etwa an die Aktenlage im Zusammenhang mit den Geschehnissen während des Zweiten Weltkriegs. «Das zeigt, dass uns die Geschichte auch noch nach 50 Jahren einholen kann». Nur eine gute Dokumentation erlaube es, auch entsprechende Erklärungen daraus abzuleiten. «Ohne Geschichte», sagt sie, «fehlen die Wurzeln der Gesellschaft.» Mit einer grossen Informationslücke hatte Ursula Jecklin während langen Jahren zu kämpfen. Der bis 1928 besetzte Posten des Stadtarchivars war während rund 50 Jahren verwaist geblieben. |
Das hatte Folgen. Denn das Schriftgut zu 50 Jahren Stadtgeschichte fehlte ganz einfach. Diese grosse Lücke muss in langwieriger und mühsamer Detailarbeit von Ursula Jecklin und ihren Mitarbeiterinnen geschlossen werden. Doch hinter diese Arbeiten konnte das Team erst vor drei Jahren so richtig gehen, da Jecklins vordringlicher Auftrag lautete, die Herausgabe der Stadtgeschichte zu besorgen und das Historische Archiv zu erschliessen und zwar erst noch bei einem anfänglichen Wochenpensum von 13 Stunden. Für die Aufarbeitung und Erschliessung des Materials nach 1800 ist daher nicht viel Zeit geblieben. «Wir konnten zwar bereits einiges machen. Aber noch immer ist ein riesiger Nachholbedarf vorhanden.» EDV-Daten und die Folgen Bei der Erschliessung des heutigen Materials stellt sich Ursula Jecklin ein anderes Problem: Wie schafft man es, dass die Aufzeichnungen der über EDV gesteuerten Daten nicht verloren gehen? Denn im High-Tech-Zeitalter werden Daten vielfach aktualisiert, indem sie überschrieben werden. Für die Geschichte ist dies fatal. In Chur ist das Problem zwar noch nicht akut, doch die Gefahr durchaus vorhanden. Zusammen mit weiteren Berufskollegen stellt sich die Historikerin Fragen nach der Authentizität und Haltbarkeit elektronisch erzeugter und gespeicherter Dokumente. Den Antworten ist man auf der Spur. In Basel Stadt läuft derzeit ein Pilotprojekt, das der Frage nachgeht, wie EDV-gesteuerte Daten übernommen und benützt werden können. Privatpapiere geben Aufschluss Im Stadtarchiv ist man beileibe nicht nur an Rechtstiteln und behördlichen Akten interessiert. Immer wieder ermöglichen es Papiere aus Privatbesitz, fehlende Puzzlesteine zur Stadtgeschichte hinzuzufügen. Dazu zählen etwa Fotos, welche das frühere Leben dokumentieren, ebenso Briefe, Tagebücher, Kaufverträge oder auch Pläne. Gesammelt werden ausserdem Informationen über Menschen und Strukturen. «All das ist zwar sehr spannend», erzählt Ursula Jecklin, «aber natürlich gehört dies nicht zu unserer Hauptaufgabe.» Ebenso wenig wie das Verfassen von Publikationen. «Leider haben wir dazu fast keine Zeit. Vieles machen wir deshalb in unserer Freizeit.» Datenschutz Bei aller Sammeltätigkeit, Archivierung und Erschliessung der Daten und Informationen müssen die Menschen auch geschützt werden. Ein Grund, weshalb das Archivmaterial während 35 Jahren gesperrt bleibt. Für personensensible Daten gilt sogar eine Sperrung von 80 bis 100 Jahren. «Alle, auch städtische Funktionäre und Beamte haben das Recht auf Datenschutz.» Ansonsten erhalten alle Interessierten Einsicht in die Geschichtsdokumente. Ob man nach einem uralten Kaufvertrag sucht oder Einblick in das Verhörprotokoll von Jörg Jenatsch nehmen will, im Stadtarchiv hilft man weiter. «Gerade aber bei älteren Akten, die sich nicht einfach lesen lassen, sollte eine gewisse Kenntnis schon vorhanden sein. Mitgeben», so Ursula Jecklin, «können wir die Unterlagen aber nicht.» Wichtig ist, dass die Dokumente durch die Benützung, aber ebenso bei der Lagerung nicht beschädigt oder zerstört werden. Um sie zu schützen, werden sie etwa in säurefreien Schachteln und Mappen aufbewahrt. Ausstellungen Das Stadtarchiv erarbeitet jedes Jahr eine oder zwei Ausstellungen, oft in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen über Themen, die die Stadt berühren. «Wir möchten damit der Öffentlichkeit etwas aus unserem Archiv zurückgeben», erklärt die Stadtarchivarin. Die Churer wissen dies zu schätzen. Die Ausstellungen werden mit jeweils 300 bis 400 Besuchern pro Woche entsprechend gut besucht. Auch Schulen machen davon rege Gebrauch. Für die Lehrer gibt es Einführungen, für die Schüler je nach Ausstellung museumspädagogische Begleitungen.
Die Zeit der ganz grossen Entdeckungen aber ist vorbei. Im Stadtarchiv freut man sich indessen auch über kleine, nichtsdestoweniger interessante Materialien. So zeigte sich Ursula Jecklin auch beglückt über das Auftauchen eines kleinen Plans aus dem 19. Jahrhundert, der sich mit der Gestaltung des Rathaus-Saales befasste. «Der Plan sah vor, im Dachstock des Rathauses einen runden Saal einzubauen und ihn mit roten Samtdraperien auszustatten», erzählt die Historikerin mit leuchtenden Augen. Realisiert worden ist der Vorschlag nie. Viele Dokumente haben Ursula Jecklin bestätigt, dass die meisten Probleme, mit denen wir uns heute beschäftigen, so neu nicht sind. Das Beispiel des Bahnhofplatzes oder des Kornplatzes etwa zeigt, wie lange sich schon die Churer mit Gestaltungsproblemen herumschlagen. «Die Probleme sind oft die gleichen. Sie präsentieren sich einfach immer wieder anders», hat Jecklin erkannt. Karin Huber |