Der Film «La grande bouffe» aus dem Jahre 1973 zeigt meisterhaft die Dekadenz der heutigen Gesellschaft auf. Manche mögen sich noch daran erinnern, wie sich die vier gestandenen Herren, Marcello Mastroianni, Ugo Tognazzi, Michel Piccoli und Philippe Noiret, in einer Pariser Villa buchstäblich zu Tode frassen. Mindestens die Lust an jeder Völlerei wurde einem genommen, und wer die Botschaft verstehen wollte, machte sich sogar ein paar Gedanken über die Zwiespältigkeit dieser Welt. Es hätte genug zu essen für alle, wenn die Güter gerechter verteilt würden. Was tun wir stattdessen? Wir verbrennen Tausende von Tonnen Fleisch, um unser Gewissen und die Marktverhältnisse in den Industriestaaten zu beruhigen.

 

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Stefan Bühler


Fasten

Es gibt aber noch andere Tummelfelder von Dekadenz, nämlich überall dort, wo mit dem Essen Schindluder getrieben wird. Das Guinessbuch der Rekorde hat schon lange aufgehört, den eierfressenden Rekordhalter aufzulisten. Andere dagegen machen ruhig weiter. Eine demnächst beginnende Fernsehsendung bringt den Container mit übergewichtigen Exhibitionisten, die jeweils rausfliegen, wenn sie nicht genügend Pfunde verlieren. Um das Ganze zu dramatisieren, werden den pervertierten Big Brothers Süssigkeiten und andere Delikatessen mit möglichst vielen Kalorien vorgesetzt, denen sie unter den Augen des Fernsehpublikums widerstehen müssen. Weil dank Satellitenübertragung diese «Führe mich nicht in die Fressversuchung»-Sendung auch in Hungergebieten zu sehen sein wird, kann man sich vorstellen, wie dort Freude aufkommt.

Nun muss man ja dem Publikum offensichtlich solchen Nervenkitzel zeigen, damit es sich amüsiert. Da darf dann der Frank Elstner dem Thomas Gottschalk Mohrenköpfe ins Gesicht werfen, weil das lustig ist. Die beiden regen sich noch kurz über die Begriffe Mohrenköpfe und Negerküsse auf. Sie hätten sich besser zuerst gefragt, ob man mit Zwergen-Werfen nicht ethnischere Unterhaltung böte als mit Esswaren-Schiessen. Um nicht falsch verstanden zu

werden: Es bleibt jedem Bäcker unbenommen, eine 17 Meter lange Cremeschnitte als Zeichen seiner beruflichen Kompetenz zu kreieren. Man kann

diese ja in Einzelteile zerlegen und den Verkaufsgewinn sogar einem guten Zweck zuführen.

Wie wäre es, wenn wir einmal über das Fasten nachdenken würden? Fasten bedeutet mehr als der Versuch, begangene (Fress-)Sünden zu lindern. Christentum, Judentum, Islam und Hinduismus kennen das

Fasten. In vielen Kulturen war es ein Teil des Fruchtbarkeitsritus zurzeit der Sonnenwende. Für die Christen die Vorbereitung auf Ostern, für die Juden das Versöhnungsfest Jom Kippur als Busse und Reinigung, für Moslems ist der Fastenmonat Ramadan eine Art von Busse. Fasten, um Gott näher

zu kommen? Da ist es natürlich schon lustiger, wenn man uns die modernen Götzen, die Entertainer des höheren Blödsinns, in die Stube bringt, die sich mit Torten und Mohrenköpfen bewerfen.