Jubiläum mit "Romeo und Julia"

ws. In diesem Jahr feiert der Verein Freilichtspiele Chur sein 20-jähriges Jubiläum.
Zu diesem Anlass wird zwischen dem 30. August und dem 22. September auf dem Arcas "Romeo und Julia" von William Shakespeare aufgeführt. Inszeniert wird das hochaktuelle Stück der Weltliteratur von Jean Grädel.


Was heute zur festen kulturellen Institution von Chur gehört, hat seine Wurzeln in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Stadttheater darbte dahin. Es fehlte an innovativen Konzepten und Perspektiven, die künstlerischen Gleise waren in Chur festgefahren und es bestand eine einseitige Abhängigkeit vom staatlichen Wohlwollen.
Das alles bewog einige freischaffende Künstler von Chur, 1974 die "Klibühni Schnidrzumpft" mit dem Ziel zu gründen, das kulturelle Leben in allen Bereichen des Theaters und der Kleinkunst zu fördern - frei von wirtschaftlichen und politischen Zwängen, kreativ und originell. Die durch Initiative und Spontaneität geprägte Aufbauarbeit in einem für Chur neuartigen Rahmen stiess auf wachsendes Interesse. Eigenproduktionen, "Klibühni-Fest" und Theaterfestivals auf den Plätzen der Altstadt erfreuten sich grosser Beliebtheit beim zumeist jungen Publikum.
Das rasche Wachstum der "Klibühni" und der Wunsch, den beliebten Eigenproduktionen eine bessere finanzielle und organisatorische Struktur zu verleihen, führte im Jahre 1981 zur Gründung des "Vereins für Freilichtspiele Chur", mit der ersten Produktion "Il Campiello", der 15 weitere folgten.
Einer der wichtigen Initianten zur Gründung des Vereins Freilichtspiele Chur war der Regisseur Gian Gianotti. Er erinnert sich an die Geburtswehen des Vereins und an eine Vision, die Realität wurde:

Freilichtspiele Chur - zum Zwanzigsten

Als 1980 die Institution Klibühni Schnidrzumft an der Kirchgasse 14 ins verflixte siebte Jahre kam, wurden die Grenzen des Machbaren als einengend empfunden. Die Stimmung im Höfli hatte mit Konzerten, Schauspielproduktionen, Lesungen, Diskussionen und Ausstellungen bereits viele Theaterinteressierte erreicht, die Klibühni versprach weitere Dimensionen, insbesondere sommer-musikalische Perlen, textliche Experimente, feinnuancierte theatralische Annäherungen in Studioform an sommerlicher Theaterneugierde. Das Publikum schien die theatralische Dimension unter dem Sankt Martins-Uhrschlag zu geniessen.
Die Macher, wir, empfanden die kleine Perle mit dem grossen Globe-Charakter als angenehm, intim aber auch als naturalistisch verführerisch. Wir hätten weiterhin sehr theaterwirksam und in höchster Publikumsnähe Flöhe abzählen können …, aber es drängte uns nach mehr Wirkung, nach mehr Publikum, nach mehr. Ganz einfach nach mehr! Natürlich auch nach mehr Geld - auch wenn wir wussten, anfangen werden wir klein müssen, "bescheiden, demütig". Dankend und dankbar.
Eine grössere Produktion hatte 1979 eine gewisse Wirkung erzielt, ein "Suppenstein" wurde sozusagen dadaistisch als Freilichtspiel ausgekocht. Zum Kochen brachte die Suppe vor allem unseren Wunsch nach "wir auch!", und so sassen wir zusammen und hegten aus, was die Zukunft uns bescheren sollte. Erträumt hätten wir uns die Dimensionen nicht - weder die Wirkung der Projekte noch die dafür nötige
Arbeit.
Das erste Stück war bald vorgeschlagen. Unter der Wirkung einer Regieassistenz bei Strehler war klar, es durfte nur das Beste gut genug sein, ein Goldoni musste her, und warum nicht gerade das Stück mit dem "er" eben grosse Erfolge gefeiert hatte: "Il Campiello". Er hatte es venezianisch-dialektal, sprachlich sehr sorgfältig und für die italienische Mundartkultur engagiert auf die Bühne im Piccolo gebracht - wir wollten und mussten es sinngemäss aber nicht weniger engagiert für unsere Anliegen übersetzen. Wir hatten ein Ziel, wir hatten Energie und Lust, also gingen wir an die Arbeit. Ich unterstreiche indirekt und wissentlich dieses WIR: Robert Indermaur und Albi Brun allen voran, Vreni Sulser, Forti Anhorn, Andi Joos, Markus Nigg und ihre jeweiligen Partner, Freunde und Freundinnen. Und ein potentiell recht dynamischer (wie es sich dann zeigte) "Nachwuchs". Mitgetragen wurden wir auch vom Stadtpräsidenten Andrea Melchior, der uns "machen lassen wollte" und sich vor allem schützend vor die kritischen Theaterkoryphäen stellte, aber das sahen wir auch erst Jahre später.
Zuerst musste eine juristische Struktur her, und die grösste Zeit der Gründungsversammlung am 27. März 1981 ging für die Frage nach dem Namen drauf: Sollte diese Organisation nüchtern und alles ermöglichend "Verein Freilichtspiele Chur" heissen oder doch ganz einfach "Churer Theater Vorussa". Die Bezeichnung Freilichtspiel hatte eine historizierende Aura, etwas vom Festsspielcharakter war dem in der Praxis und Erfahrung nicht abzusprechen. Trotzdem, es siegte und überzeugte die schlichte Formulierung. Nicht die Theaterwerte der Vergangenheit sollten unterstrichen werden damit, sondern das neue Potential: Theater spielen im Freien. Einiges wurde damit geäussert. Es sollte "Theater" sein ohne Festspieltendenz, keine Historie und Gedenkfeierlichkeiten, sondern "Theater" als Gespräch, als Wort- und Situationsspiel, als Darstellung der Charakter- und Beziehungsnetze. Im Freien, nicht eingeengt von Mauern und kleinen Dimensionen: das Detail der Theaterarbeit in der grossen Umgebung, die Sorgfalt in der grösstmöglichen Grosszügigkeit. Das überzeugte die Gründungsmitglieder und später das Publikum.
Damit war aber noch kein erster Schritt getan. Die erste Hürde würde sich erst mit dem Realisierungskonzept stellen: Sprache (inklusiv Dialekte), Übersetzung, Musik, Raum. Wie und wo, und wiederum wie und warum ... Die Sprache musste möglichst goldonianisch sein, mit dem ganzen Witz der sprachlichen und sozialen Ebenen, musste natürlich deutsch sein, aber möglichst italienisch - so wählte man die deutsche Sprache mit italienischer Syntax und fand sich im Bündner und Churer Dialekt goldrichtig (das grösste Lob kam ganz spontan von einer Sekundarschülerin, die nach einer Vorstellung ganz verdattert äusserte: "Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so viel Italienisch verstehe").
Aber dann und vielleicht typischer in der Ausrichtung dieser neuen Form von Freilichtspiel war die Frage nach der Ausstattung. Es stand früh fest, dass die Aufführungen auf dem Arcas stattfinden sollten, aber wo? Zuunterst im Trichter war die Akustik "interessant", die Häuser nah, und natürlich dachten wir daran, die Leute aus den Häusern treten zu lassen. Die Türen passten aber (nach den Umbauten) nicht mehr zu den optisch dazugehörigen Fenstern, und ganz banal und praktisch mussten wir merken, dass Theater mit Realität nichts zu tun haben durfte. Ein Dokument ist das Bild von Robert Indermaur, der die Situation am "Gambero Rosso" (Fantasie rund um die Absteige von Pinocchio) definieren wollte und ursprünglich auch für die erste Werbung genügte. Theatralisch mussten andere Dimensionen gefunden werden, so kam man auf die Arena und theatralisierte den Campiello sozial mit Chur als Hintergrund. Das sagt sich jetzt so leicht ... jedenfalls die Stimmung war damit definiert und gemacht. Aus den geplanten 12 Vorstellungen ("Ihr könnt wirklich immer nur übertreiben") wurden zwölf ausverkaufte Häuser und wir hätten noch einige weitere spielen können. Das Budget ("Ihr seid ja wahnsinnig") von gut Fr. 58 000.- mit budgetierten Einnahmen von Fr. 17 000.- und realen Einnahmen vom Dreifachen wurde richtiggehend weggefegt. Dem Verein war vom ersten Anfang an eine schöne und solide Basis gegeben.
Eine Komödie mit Wort- und Beziehungswitz, mit einer sommerlichen und italienischen Leichtigkeit im vollsten Ernst gab einer Stadt erst ihr Freilichtspiel. Einprägend. Verschiedene! wollten den Arcas in Campiello umtaufen lassen, nachher …
Das war das erste Jahr, das zweite "brachte" mit Jean Grädel und Alex Müller ("Ihr seid ja wieder wahnsinnig, warum Fremde holen?") den "Mittsommernachtstraum". Man bemerke die Übersetzung schon nur des Titels ... Dieses Projekt gab dem Verein eine weitere Dimension in der Gestaltung des Kunstraumes Bühne und Kostüm und wirkte bei verschiedenen Theatermachern in der Schweiz überzeugend. Erste Nachahmungen fassten in anderen Städten Fuss.
Dann folgte "Mutter Courage", damit die schönsommerliche Dimension des Theaters nicht nur in der Komödie stecken bleiben durfte. Auch dieses sozialkritische Engagement faszinierte, ganz anders, aber sehr wahrscheinlich erreichte der Verein erst jetzt und spätestens mit dem Dra Dra die volle Bedeutung und Dimension des "Theaters Vorussa". Die Churer Einengung war damals schon ganz unbeabsichtigt schweizerisch geworden, Publikum aus Zürich, Schaffhausen, Basel, Luzern und Fribourg aber auch aus Bregenz und sogar aus Stuttgart fand sich ganz natürlich in Chur ein. Sommerlich, theaterinteressiert, kultursuchend.
Die Freilichtspiele Chur, ein Zufall zur richtigen Zeit? Mit einigen packenden Ideen und Vorlagen? Mit Glück und Mut? ... Jedenfalls eine Idee, die Fuss fasste, ihren Weg ging und fliegen lernte.
Oliver, Andrea, Bettina, Bethli, Paul und Maria … Claudia, Renata, Gusti, Reto, Philipp und Peter, Serena, Corina, Denise, Ursina … Adrian, Hubert, Urs, Nesa, Ursula, Diego, Beda, Rainer, Daniel, Domenic, Mario und Martha, Siegfried, Sandra und Selina … und bis jetzt sicher an die zweitausend andere und weitere haben die Freilichtspiele Chur gemacht, getragen, gestaltet, geprägt.
Vielen und allen: vielen, vielen Dank!
Gian Gianotti, Juli 2001

Jubiläumsausstellung

Zum Auftakt des Jubiläums und des diesjährigen Theatersommers lädt der Verein Freilichtspiele Chur Einheimische und Gäste zur Jubiläumsausstellung in die Stadtgalerie (Poststrasse, Rathaus) ein. Mit Fotos, Kostümen, Masken, Regiebüchern, Programmen und Postillen erinnert der Verein Freilichtspiele Chur an sein Theaterschaffen in den vergangenen 20 Jahren. Die Ausstellung ist jeweils Dienstag bis Freitag von 13.30 bis 17.30 Uhr und Samstag/Sonntag von 10.00 bis 17.00 Uhr geöffnet. An der Ausstellung können auch Sitzplätze zu einer der Aufführungen von "Romeo und Julia" reserviert werden.

Volle Konzentration auf "Romeo und Julia"


Vergangenes Jahr wurde im Hinblick auf das bevorstehende Jubiläum bewusst auf eine Produktion verzichtet. Einerseits wollten sich die Vereinsverantwortlichen voll auf die Vorbereitungen für das Projekt 2001 konzentrieren, andererseits liess sich auch Geld bündeln für "Romeo und Julia", dessen Inszenierung nicht nur aussergewöhnlich ist und ein einmaliges Theatererlebnis verspricht, sondern auch den üblichen finanziellen Rahmen sprengt. Regie führt Jean Grädel, der bereits in den Jahren 1982 und 1984 auf dem Arcas überzeugende Theaterarbeit geleistet hat.
Für die Jubiläumsproduktion "Romeo und Julia" wurden fünf Schauspielerinnen und Schauspieler mit professioneller Ausbildung engagiert. Sie sind zwar die tragenden Elemente im Ensemble. Viele der rund 40 Amateure haben aber zum Teil auch jahrelange Bühnenerfahrung bei Laientheatern. Sie alle haben seit Mai dieses Jahres von Jean Grädel, Ursina Hartmann und Dagmar Haueter Bewegungs-, Improvisationstrainings und Sprachausbildung erhalten. Seit Mitte Juli sind die eigentlichen Proben zu "Romeo und Julia" im Gang, zu denen Amateure und Profis fast täglich aufgeboten werden. Geprobt wird bei gutem Wetter im Freien, andernfalls auf der Bühne des Stadttheaters.

Expo-Holz für das Bühnenbild

Wenn am Donnerstag, 30. August, als Auftaktszene heisse Temperamente in einem rauschenden Karneval entladen, wähnt man sich auf dem Arcas inmitten von Verona. Als Sinnbild für das gestörte Verhältnis und den uralten Hass zwischen den Familien Montagu und Capulet liegt quer über den Platz eine zerbrochene Brücke. Sie ist das Kernstück des Bühnenbildes, für das der bei der Theatergruppe Muntanellas tätige Bühnenbildner Ueli Binggeli zeichnet. Er benützt dazu Elemente aus Expo-Holz, mit dem Peter Zumthor letzten Jahres im Schweizer Pavillon in Hannover den Klangkörper errichtet hat. Teile dieses Holzes sind in der Folge vom Churer Holzbauer Christian Schürch zur Wiederverwendung in die Schweiz zurückgeführt worden. Binggeli ist zudem für die Lichtgestaltung verantwortlich, mit dem die ereignisreichen, spektakulären aber auch sinnlichen fünf Akte der Love-Story "Romeo und Julia" ins richtige Licht gerückt werden. Sozusagen als Ouvertüre trifft man sich im Café Arcas, das jeden Abend zu Ehren von "Romeo und Julia" bis 19.45 Uhr geöffnet ist.


Über den Reichtum der Liebe

In Shakespeares "Mittsommernachtstraum" probt eine Truppe von Laiendarstellern fleissig und unermüdlich. Zur Hochzeit des Fürsten Theseus mit Hippolyta wollen sie ein Theaterstück aufführen, das einer von ihnen, der Zimmermann Squenz, verfasst hat. Es ist: "Die höchst klägliche Komödie und der höchst grausame Tod des Pyramus und der Thisbe. Sie fusst auf den Metamorphosen Ovids, der von einem babylonischen Liebespaar berichtet, das sich zu einem nächtlichen Zusammentreffen am Grabe des Ninus verabredet hatte. Thisbe, die zuerst aus der Stadt zum Ort des Stelldicheins kam, floh vor einem Löwen in eine Höhle, wo sie sich verbarg; sie verlor auf der Flucht aber ihren Schleier. Der später eintreffende Pyramus fand den Schleier, glaubte Thisbe zerrissen und erstach sich, da er ohne Thispe nicht weiterleben wollte. Thispe wiederum fand bei ihrer Rückkehr Pyramus sterbend und stürzte sich in sein Schwert, da sie gleichfalls nicht mehr bereit war, alleine weiterzuleben.
1982 habe ich auf dem Arcas den "Mittsommernachtstraum" für die Freilichtspiele Chur inszeniert als modernes Volkstheater. Shakespeare verwendete das gleiche Motiv des Liebespaares, das sich durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle selbst den Liebestod gibt, im kurz vorher geschriebenen Stück "Romeo und Julia".

Es gibt noch mehr auffallende Parallelen des Liebes-Themas

Im "Mittsommernachtstraum" widersetzt sich Hermia der Heirat mit einem ungeliebten Mann und entschliesst sich, mit dem Geliebten Lysander zur Emigration, wählt lieber das Los der Fremde als den Verzicht der Liebe. Damit verbinden sich beide, wie Romeo und Julia, auf Tod und Leben einander. Sie wollen ihre Liebe gegen die Welt durchsetzen, sie allen Widerständen zum Trotz behaupten und alle möglichen Folgen auf sich nehmen; sie wollen in diesem Augenblick, was wirkliche Liebe immer will: dass aus der Utopie Wirklichkeit werde. Anders als Romeo und Julia gehen Hermia und Lysander leichtsinnig zu Werke: in ihrer Schwatzsucht teilen sie ihren Entschluss, kaum gefasst, Helena mit, die wieder Demetrius einweiht, den sie unerwidert liebt, da er glaubt, in Hermia verliebt zu sein.
Im Wald, durch den sie flüchten, herrschen in dieser Mittsommernacht Oberon und Titania. Sie haben Liebesgeschichten mit andern, streiten sich um ein Lustobjekt und tun und lassen was sie wollen. Beide stehen für eine Sinnlichkeitsutopie und treiben die Liebespaare und den Handwerksmeister Zettel mit der Hilfe Pucks in einen Gefühlstaumel, aus dem sie erst am nächsten Morgen wieder erwachen, ernüchtert und bereit, in eine voraussehbar langweilige Ehe einzuwilligen.
Hermia und Lysander konnten das Geheimnis nicht für sich behalten, Romeo und Julia wahren es und wählen gemeinsam den Tod.
Schon der Prolog zu "Romeo und Julia" kündigt eine tragische Liebesgeschichte an, die unauflösliche Beziehung von Liebe und Tod, die zur zentralen Thematik dieser Liebestragödie gehört. Wie im "Mittsommernachtstraum" arbeitet Shakespeare auch in "Romeo und Julia" mit komödienhaften Elementen.
Neben den clownesken Figuren der Angestellten der verfeindeten Familien Capulet, mit der vierzehnjährigen Tochter Julia und Montagu und ihrem Sohn Romeo, lernen wir profiliertere komische Figuren kennen, die für ganz andere Liebesauffassungen stehen: die Amme Julias und Romeos Freund Mercutio. Julias und Romeos lyrische Intensität der Sprache wird ständig begleitet und gebrochen von einem vielstimmigen Chor völlig gegensätzlicher Stillagen.
Die Geschichte der Liebe, die im Mittelpunkt des Dramas steht, ist der Versuch, den Erfahrungsbereich der Liebe in vielerlei Haltungen, Situationen und Ausdrucksformen begreiflich zu machen. Romeo und Julia verkörpern die attraktivsten Aspekte einer Zuneigung, die alles auf das Zusammensein mit dem geliebten Partner setzt und alle anderen Rücksichten zurückstellt. Ihre echte Hingabe ist zum Risiko bereit und setzt sich über pragmatische Verhaltensregeln hinweg. Die Liebe Romeos und Julias erscheint angesichts der Welt Veronas als jugendliche Utopie; es bleibt ihr nicht die Zeit, sich zu echter Partnerschaft zu entwickeln, aber sie ist keine romantische Pose wie Romeos unerfüllte Verliebtheit in Rosalind im ersten Akt. Das Stück macht deutlich, dass romantische Liebe mit pragmatischem Zweifel allein nicht zu begreifen ist. Der Tod der Liebenden wäre eine sinnlose
Farce - wie der Theatertod von Pyramus und Thisbe in "Ein Mittsommernachtstraum", wenn er nur als Konsequenz irregeleiteter Jugendtorheit zu verstehen wäre. Er beweist vielmehr die Realität und den Wert einer Hingabe, die zum Einsatz des Lebens bereit ist.
Romeo und Julia repräsentieren nur einen beschränkten Aspekt aus dem reichen Erfahrungskomplex der Liebe. Die jungen Liebenden reflektieren weder über die individuelle Eigenart des Partners noch über ein gemeinsames Leben jenseits der ekstatischen Liebesvereinigung. Auch die in Shakespeares Sonetten thematisierte Frage der Nachkommenschaft spielt für sie keine Rolle. Es ist eine Liebe, die sich mit einer feindseligen und verständnislosen Welt nicht arrangieren kann; für sie gibt es nur unbedingte Erfüllung oder Tod, und auch die weisen, keineswegs lebensfremden Ratschläge des Paters Lorenzo erweisen sich angesichts dieser absoluten Fixiertheit auf den Geliebten als wenig effektiv.
Neben dieser unabdingbaren Liebe zwischen den sehr jungen Menschen lernen wir andere Liebeskonzeptionen kennen: da ist die geschwätzige, wortmächtig vitale Amme, für die Liebe nur im physischen Bereich existiert und ein Liebhaber so gut wie der andere ist. Der intellektuelle Spötter Mercutio sieht Liebe ebenfalls nur als sinnliche Befriedigung oder kindische Phantasterei, aber er erfährt nie etwas von Romeos wirklicher Liebe. Die redseligen Reminiszenzen der Amme und die ironischen Sprüche und die Erzählungen Mercutios schaffen die deutlichsten komischen Kontraste zur Liebe der Jungen. Julias Vater vereint traditionelle elterliche Autorität, wehmütige Erinnerung an eigene Jugendeskapaden und pragmatische Ehevorstellungen. Die Diener ihrerseits denken nur daran, wie sie wieder eine junge Frau an eine Wand drücken könnten.
Vom Prolog bis zur letzten Zeile wird die Verbindung zwischen der Liebe Romeos und dem Hass der Familien bewusst gemacht. Die Liebenden büssen für die Unfähigkeit der Eltern, eine Welt zu schaffen, in der ihre Liebe lebensfähig ist. Ihr Tod ist der Preis der Versöhnung, und sie werden damit zu Opfern.
Romeo und Julia ist eine Liebestragödie nicht nur in dem Sinne, dass der tragische Ausgang die Folge von Liebesverwicklungen ist, sondern darin, dass Reichtum und Gefährdung der Liebe das eigentliche Thema sind.
Im Sommer 2001 erzählen wir Ihnen, sehr verehrtes Publikum, eine uralte Liebesgeschichte, die für jeden von uns immer noch und immer wieder hoch aktuell ist, mit über 40 Amateur- und Profi-Schauspielerinnen und Schauspielern. Wenn die komischen und tragischen Liebesverwicklungen nicht die einzige Parallele zum "Mittsommernachtstraum" von 1982 sind, dann dürfen Sie sich freuen auf zwei Stunden leidenschaftliches Theater voll Gefühlen, Witz, Ironie, Tragik und Komik auf unserer Freilichtbühne auf dem Arcas. Wir freuen uns auf Sie!

Jean Grädel