Chur hat eine lange Geschichte. Sie in anderthalb,
zwei Stunden zu erzählen, das ist schlicht unmöglich. Aber zumindest
einen Ein- und Überblick geben – wer könnte das besser
als die Churer Stadtführerinnen und Stadtführer. Einer der Kundigen
ist Mario Willi.
Text und Bild: Karin Huber
«Nein», sagt Mario Willi lachend, «zum Stadtführer
wurde ich nicht ausgebildet. Aber ich kenne Chur von Kindesbeinen an und
fehlende Lücken habe ich, als ich von Chur Tourismus als Stadtführer
eingesetzt wurde, selbst aufgefüllt.» Und Lücken gab es
tatsächlich, wie Mario Willi, an Jahren ältester Churer Stadtführer,
im Rückblick selbst erstaunt einräumt. «Denn ich dachte
tatsächlich, ich kenne meine Stadt in- und auswendig.» Und
so hat der ehemalige Unternehmer und spätere Wander-Reiseleiter nach
seinem Churer Stadtführer-Selbststudium «seine» Stadt
ebenfalls noch von einer anderen Seite kennen gelernt.
On Tour
Heute ist Mario Willi on Tour. Er steht frühzeitig am vereinbarten
Treffpunkt. Und schaut nervös auf die Uhr. Seine Gäste, an
jenem Tag sind es Mitglieder des Kirchenchors Solothurn, die selbst ein
schmuckes Städtchen haben, hätten längst schon am Postplatz
eintreffen müssen. Sind sie zwar auch, doch warten sie auf ihren
Stadtführer auf der gegenüberliegenden Seite des Postplatzes.
Das kleine Missverständnis klärt sich schnell auf.
«Ich bin Mario Willi, ein echter Churer und der älteste Stadtführer
von Chur», beginnt er beim Fontana-Denkmal mit Blick auf den «Wohnsitz»
der Regierung mit der Vorstellung. Das Eis ist gebrochen, ein erstes Lächeln.
Kurz und prägnant folgen die wichtigsten Informationen über
den grössten Kanton der Schweiz, über seine 150 Täler,
die Dreisprachigkeit, das Romanische, das immer weniger Menschen reden.
Mario, in einer Familie mit neun Kindern aufgewachsen, die zusammen wiederum
27 Kinder haben, ist der
einzige von ihnen, der noch romanisch spricht. Das tut ihm in der Seele
weh. Das registrieren sogar die Solothurner, die so unmittelbar mit der
rätoromanischen Schweiz und dieser Problematik konfrontiert werden.
Das alte Posthörnli
Wir schauen hinüber zum Grauen Haus, einst von der Familie von Salis
erbaut, später an den Kanton verkauft. Auch die wunderschöne
alte Blutbuche im Karlihof ist im Blickfeld. Mario Willi macht auch auf
diesen Baum aufmerksam und hätte wohl auch noch gerne von dem bei
der Blutbuche liegenden Schalenstein erzählt, auf dem Fussspuren
der Bronzezeit sichtbar sind, hätte es nur die Zeit erlaubt. Beim
Hotel «Freieck» (1577), noch immer «verziert»
mit einem alten Posthörnli (dem Portal der alten Post), das Passanten
kaum jemals beachten, stellt sich die Frage, wohin mit dem Handgepäck
der Solothurner? Die «Freieck»-Mitarbeiterin löst das
Problem unbürokratisch. Dergestalt erleichtert zieht die Gruppe weiter
in die Süsswinkel-Gasse bis vor das 1450 erbaute Haus der Familie
Schauenstein und dem Schulhöfli, dem späteren Schulhaus. Dahinter
liegt der einstige Churer Marktplatz.
Meerhafen und Nachtwächter
Die ersten Ahs und Ohs ertönen auf dem Hegisplatz. Alles rätselt,
was es denn mit dem einzigen Churer Holzhaus, dem Haus zum Meerhafen,
einer früheren Wirtschaft und ehemaligen «Hafenkneippe»
für Säumer, auf sich gehabt haben könnte. Doch da muss
auch Mario Willi passen. Es ist ihm anzusehen, dass er selbst gerne dieses
Geheimnis lüften würde. Beim um die Ecke liegenden Nachtwächter-Haus
(Pechpfanne) hängt eine Tafel, die davon berichtet, dass Chur 1859
noch vier Turmwächter und einen Stadttrompeter hatte, der mittags
vom Martinsturm die Trompete zu blasen hatte (was für ein schöner
Brauch). Ausserdem wandelten Nacht für Nacht 12 singende Nachtwächter
durch die Gassen. Schlug die Turmuhr, sangen sie lange Verse (welch’
gute Alternative wäre dies zu den heute patrouillierenden Stadtpolizisten).
Doch an Silvester 1887 ertönten die letzten Gesänge.
Vor dem «Nachtwächter-Haus» meint man indes, sie noch
schwach zu hören … «I träta jezz uf d’Abewacht,
Gott geb üs allna a guati Nacht …»
Der Normalschuh
Zwischen Süsswinkelgasse und den paar Schritten bis zur Reichsgasse
beim Hintereingang des Rathauses holt Mario Willi nochmals kurz aus, um
dem Kirchenchor noch mehr Churer Geschichte zu erzählen: Vom heiligen
römischen Reich, von den Stadtbränden (der letzte 1464), von
der Erlaubnis des Kaisers, in Chur Zünfte zu dulden – entgegen
dem Willen des Bischofs, von den römischen Ausgrabungen, der ersten
Besiedelung vor 13 000 Jahren. So viel Geschichte fordert die Solothurner.
Beim hinteren Rathauseingang in der Reichsgasse betrachten ein paar Kirchenchor-Damen
deshalb lieber die Auslagen von Killias als das gotische Fenster, das
aus einer in der Nähe abgebrochenen Heiliggeistkapelle stammt oder
das mit dem von Drachen gehaltenen Stadtwappen (1522). Im Gemurmel der
Zuhörenden geht dann auch fast unter, was Mario Willi zum daneben
eingemauerten Eisenstab erzählt, dem «Churer Normalschuh»,
der bis zur Einführung des metrischen Systems (1874) gültiges
Mass gewesen ist.
Vor dem Haus, in dem die berühmteste Churer Malerin aufgewachsen
ist, sind dann alle wieder bei der Sache, denn Angelica Kauffmann (1741-1807),
Goethes Freundin, ist den meisten ein Begriff.
Die Gaslampe – ein Relikt
Die Stufen, die in die Martinskirche führen, sind kaum erreichbar.
Gänggeli-Marktstände erschweren den Zugang. Wir steigen über
am Boden liegende Comic-Bücher und Geschirr. In der Martinskirche
empfängt uns eine wunderbare Kühle. Kühlende Schauer lösen
dann auch Mario Willis kurze Erzählungen über den Schandpfahl
am Martinsturm aus. Der älteste Churer Stadtführer lotst seine
Gruppe dann wieselflink durch den Gänggelimarkt, denn er ist zeitlich
im Rückstand. Sich das Kunterbunt anzusehen, bleibt keine Zeit. In
der Oberen Gasse, der früheren Oberen Reichsgasse, versammelt er
vor dem Café Zschaler mit den reichen Malereien (1890) von J. Kern
die von der schönen Churer Altstadt sichtlich beeindruckte Gruppe.
Hier steht ausserdem noch das einzige Relikt aus der Vorelektrifizierungszeit,
eine alte Gaslampe. Mario Willi fasst sich kurz, denn die durchaus ansprechenden
Töne der sich auf dem Gansplatz stationierten «Krakauer Musik»
erfordern eine gewaltige Stimmkraft.
So biegen wir schnell um die Ecke, um das Haus mit den zwei Gesichtern
(vorne schön restauriert, hinten bröckelnder italienischer Charme)
und ebenso die letzten Reste der Stadtmauer zu betrachten. Wir wandern
über den Arcas zum Haus am Martinsplatz mit seinen alten Wappen und
drehen zum romantischen Bärenloch ab. Im Gänsemarsch gehts durch
die kühlen Stollen. Wie das Bärenloch zu seinem Namen kam, ist
ebenfalls nicht so ganz klar, möglicherweise, so wird erzählt,
weil dieses Labyrinth bärenhöhlen-ähnlich ist oder vielleicht
auch, weil es damals in unmittelbarer Nähe der Stadt Bären gegeben
hat, wie Mario Willi bemerkt. «Allerdings», so holt er weiter
aus, «wurden hier früher ebenfalls Beeren zum Verkauf angeboten,
weshalb man aus den Beeren allenfalls Bären gemacht hat.» Das
Bärenloch beeindruckt. Weit mehr als das Obere Spaniöl (1640)
mit seiner frühbarocken Fassade beim Aufgang des bischöflichen
Hofes. Jetzt reicht es der Kirchenchor-Gruppe gerade noch, einen Blick
auf die Kathedrale zu werfen, bevor sie ihr Gepäck abholt und mit
der Rhätischen Bahn Richtung Arosa entschwindet und einen durchaus
zufriedenen, wenn auch ermüdeten Mario Willi zurücklässt.
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