«Im Gerichtssaal bekam ich feuchte Hände»
Tatjana Jaschinkina ist vor acht Jahren aus Aserbaidschan ausgewandert
mit dem Ziel, in der Schweiz das weiterzugeben, was sie in Russland ab
dem sechsten Lebensjahr gelernt hat. Seit 1997 lebt sie in Chur, heisst
nun mit Nachname Schüpbach, ist Mutter, berufstätige Hausfrau
und Schweizerin. Bei einem Smalltalk im Café Derby hat die 36-Jährige
über Spitzensport, Durchhaltewille, Integration, Lehrtätigkeit
und ihre Dienstleistungen für den Kanton geplaudert.
Text und Bild: Walter Schmid
«Im Café Derby sitze ich manchmal nach Gerichtsverhandlungen
zusammen mit Beamten und Anwälten bei einem Café. Vor acht
Jahren hätte ich nicht im Traum daran gedacht, einmal hier in Chur
zu sein. Denn eigentlich wollte ich mich in der Schweiz als Trainerin
betätigen und meine Erfahrungen als Spitzensportlerin weitergeben.
So, wie ich mir das vorgestellt hatte, funktionierte es aber nicht. Ich
bin deswegen nicht traurig. Es hat dazu geführt, dass ich hier einen
neuen Lebensabschnitt beginnen konnte.
Der erste fing an, als ich sechsjährig war. Damals wurde ich in meiner
Heimatstadt im Süden von Russland in die Akrobatikgruppe aufgenommen,
weil die Trainer glaubten, ich hätte ein ideales Naturell zur Ausübung
dieser Sportart – kleingewachsen, beweglich, elastisch, kräftig
und furchtlos. Akrobatik ist polysportiv und beinhaltet Bodenturnen, Ballett,
Tanz, Choreografie. Das macht diese Sportart so einmalig, Ich erhielt
eine professionelle Ausbildung in all diesen Disziplinen. Täglich
trainierten wir mindestens vier Stunden lang. Die 18-köpfige Mannschaft
mit Mädchen und Knaben war in Pärchen aufgeteilt. Meine Freundin
und ich brachten es bis zur Nummer eins in Russland.
In einem Bereich der Akrobatik wurden wir 1983 Weltmeisterinnen und erhielten
auch den Titel Sportmeister Internationaler Klasse, die höchste Landesauszeichnung.
Durch unsere Erfolge waren wir nur selten zuhause, sondern fast immer
unterwegs. Dank unserer Stellung konnten wir auch an Turnieren und Gastauftritten
in vielen Ländern im Westen teilnehmen. Wenn ich dann nachhause kam,
scharten sich die Familie, Freunde und Bekannte – die ja nie aus
Russland hinaus durften – um mich und wollten ganz genau wissen,
wie man im Westen lebt, was die Leute dort machen, wie sie denken, was
sie essen und so weiter. Bis siebzehn war ich aktive Spitzensportlerin.
Es waren harte Jahre. Was aber überwiegt, ist die riesige Erfahrungsquelle
aus dieser Zeit, die für mein Leben unschätzbar wertvoll ist.
Wenn man im damaligen Russland mit Spitzensport aufhörte, wurde man
für wenig Lohn irgendwo als Trainer zugeteilt. Aber ich hatte andere
Vorstellungen und war überzeugt, meine sportliche Ausbildung in einem
westlichen Land weitergeben zu können. Dazu kam das politische Klima
mit Perestroika und der neuen Zeit. Aserbaidschan wurde muselmanisiert
und wir wurden Fremde in der Heimat.
So hab ich meine Sachen gepackt und bin mit der Vision in die Schweiz
gekommen, mich hier als Trainerin betätigen zu können und Kindern
die wunderbare Sportart Akrobatik zu lehren. Aber meine Erfahrungen waren
nicht sonderlich gefragt. Ich war schon ein wenig erstaunt, wie hier,
im Verhältnis zu Russland, Sport als Hobby betrieben wird.
Trotz all dem war ich nicht traurig oder frustriert. Ich habe wunderbare
Leute und Freunde kennen gelernt und es fiel mir leicht, mich dem Leben
in der Schweiz anzupassen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und
meine Vergangenheit loszulassen, ohne diese lehr- und erfolgreiche Zeit
zu vergessen. Ich muss jetzt nicht mehr immer stark und hart sein, so
wie das von mir als Spitzensportlerin gefordert wurde. Ich bin Hausfrau
und Mutter des sechsjährigen Lunis. In Chur fühle ich mich sehr
wohl und völlig integriert. Und es macht mir grosse Freude, dass
ich meine sportlichen Erfahrungen bei Kindern, aber auch Erwachsenen in
Form von Kursen in Jazz-Tanz, Bodyforming, Power-Yoga und Bewegung weitergeben
kann.
Als ich Deutschunterricht nahm erhielt ich eine Teilzeitbeschäftigung
in der Cafeteria der Klubschule Migros. Eines Tages hat mir ein Lehrer
gesagt, ich sei für diese Arbeit überqualifiziert und solle
doch Russisch-Sprachkurse geben. Nach der Ausbildung für das Erteilen
von Unterricht mach ich das jetzt in der Klubschule seit drei Jahren.
Ich bin dankbar dafür und es macht mir auch unheimlich Spass. Denn
es gibt immer mehr Leute aus allen Altersschichten, die meine Muttersprache
und die kyrillische Schrift lernen möchten, sei es einfach so oder
weil sie Russland bereisen wollen. Beim Unterrichten lege ich grossen
Wert darauf, auch unser Kultursystem weiter zu geben. Das ist sehr wichtig,
damit die Schüler auch das Leben und die Mentalität der Menschen
in Russland besser verstehen lernen.
Durch meine Unterrichtstätigkeit in der Klubschule ist der Kanton
an mich gelangt. Wenn Russisch sprechende Personen befragt werden müssen,
dolmetsche ich für die Fremdenpolizei, die Kantonspolizei, die Fahndung,
für Untersuchungsrichter und bei Gerichtsverhandlungen. Manchmal
werde ich auch sehr kurzfristig aufgeboten, um Personalien aufzunehmen
oder Befragungen simultan zu übersetzen. Die Russen, die Auskunft
geben müssen, haben ja nicht immer eine reine Weste und anfänglich
war diese Arbeit auch sehr aufregend. Besonders im Gericht, wo ich bei
der ersten Verhandlung unheimlich nervös war, gezittert habe wie
vor einem Examen und feuchte Hände bekommen habe. Mittlerweilen hat
sich die Nervosität gelegt und ich habe viel gelernt und viele Erfahrungen
gesammelt. Bei dieser Aufgabe ist es nicht nur wichtig, richtig zu übersetzen.
Fast entscheidender ist, herauszuhören und wiederzugeben, was die
Befragten denken, wenn sie etwas sagen oder sie auch auf Ungereimtheiten
aufmerksam machen. Ich mach diese Arbeit mit grosser Freude und auch mit
ein wenig Stolz und selbstverständlich ehrlich und korrekt. Dazu
verpflichte ich mich jedes Mal gemäss dem Artikel 307 mit meiner
Unterschrift. Würde ich falsch übersetzen, gäbe es für
lange Zeit keine solchen Plauderstunden mehr im Café Derby. Dann
müsste man mich in den nächsten fünf Jahren im Sennhof
besuchen.»
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