«...fünfzehn Burgen durch ein Erdbeben gänzlich zerstört ...»
Afrika rammt sich seit Millionen von Jahren in die Südflanke Europas. Die Folge: Erdbeben in Chur – in Vergangenheit, Gegenwart, und sicher auch in Zukunft. Über dieses Thema handelt das eben im Verlag Desertina erschiene Buch «Erdbeben in Graubünden».
«…Es klirrten Fenster und Gläser, erzitterten Türen, und in einem Hause stürzte sogar ein Ofen ein, gerade nachdem ein Kind sich von der gefährlichen Stelle entfernt hatte.»
1905: Erdbeben in Serie
Diese Schilderung aus Chur ist ein Teil der Berichterstattung der «Neuen Bündner Zeitung» zu einer Erdbebenserie in der Region Domat/Ems-Tamins-Rhäzüns vom 25. Dezember 1905, welche Mittelbünden mehrere Wochen lang schlecht schlafen liess. Innerhalb eines Monats kam es zu fünf Beben, welche gleich stark oder etwas schwächer waren als das Beben von Vaz, 1991.
Der «Freie Rätier» berichtete über die Auswirkungen in Felsberg: «... die Scheiben erklirrten vernehmlich, Hängelampen gerieten ins Schwanken, ebenso Porträts; auch die Haustiere zeigten deutlich ein ängstliches Benehmen. Im alten Dorf entstanden an einem älteren Gebäude starke Risse; von einer Mauerruine ist ein Stück nieder gestürzt.»
Anscheinend war die Bebenserie auch ein Prüfstein für die Bodenständigkeit des Churer Mannsvolkes, denn die «Neue Bündner Zeitung» bemerkte augenzwinkernd: «Die Stösse waren so heftig, dass um 6 Uhr Frauen und Männer auf die Strasse stürzten und in der Nacht viele sich anzogen. [...] Zum Glück waren die Männer in der Nacht alle brav zu Hause, so dass sie Gelegenheit hatten, sich als das stärkere Geschlecht zu bewähren. Böse Zungen behaupten, manche hätten sich auch nur als das faulere erwiesen.»
Das Burgen-Killer-Beben
1295 wurde Mittelbünden von einem Beben heimgesucht, welches ein Vielfaches mehr an Energie freisetzte als alle Beben der Serie von 1905 zusammen. Man kann davon ausgehen, dass es im gesamten Gebiet des heutigen Kanton Graubünden zu Schäden führte.
Der wichtigste Hinweis auf das Ereignis findet sich in den zeitgenössischen Annalen des Klosters Osterhofen in der Nähe von Passau (D): «...In demselben Jahr am 4. September wurden das Kloster des Prämonstratenser Ordens in Churwalden und fünfzehn Burgen in demselben Gebiet durch ein Erdbeben gänzlich zerstört.»
Gemäss Überlieferung führte das Beben auch in Bergamo, Verona und Konstanz zu Schäden; und sogar in Heilbronn, Milano, Monza und Wien hatte es Auswirkungen.
Mit einer Magnitude von 6.5 war das Beben in etwa gleich stark wie jenes in Northridge, Kalifornien, im Jahr 1994 (Magnitude 6.7). Bei diesem Beben wurden gemäss Angaben des Amerikanischen Geologischen Dienstes (USGS) 60 Menschen getötet, mehr als 7’000 verletzt, 20’000 obdachlos; mehr als 40’000 Gebäude wurden beschädigt. Geschätzte Schäden: zwischen 13 und 20 Milliarden US-Dollar.
Beben ausserhalb Bündens
Erdbeben im Alpenraum können so stark sein, dass sie auch dann in Graubünden zu spürbaren Auswirkungen oder sogar Schäden führen, wenn ihr Epizentrum weit ausserhalb der Bündner Kantonsgrenze liegt.
Beispiel: Am 10. September 1774 ereignete sich in der Region Altdorf UR ein starkes Erdbeben (Magnitude 5.9), das zwei Todesopfer forderte und in der Epizentral-Region zu schweren Gebäudeschäden führte. Ein Zürcher Landvogt mit Sitz auf Schloss Forsteck im Rheintal berichtete seinen Obrigkeiten in Zürich unter anderem: «Beÿ heütiger durchreis berichtet mich Herr Zunftmeister von Salis, in Chur seÿ es sehr stark gewäsen, so dass Schornstein von tächeren gefallen, und 1 haus hab einen riss bekommen.»
Auch das Beben im Jahre 1601 in der Region Unterwalden (Magnitude 6.2) hatte genügend Kraft, um Chur so stark durchzuschütteln, dass es beinahe zu Schäden gekommen wäre. Der Bündner Chronist Hans Ardüser schrieb in seiner Rätischen Chronik: «Zuo Chur vor S. Marti hat es den grossen turnn also starck erschütted, dass die gloggen angeschlagen haben; man beforcht sich der hüsren infal.»
Beben: Regel, nicht Ausnahme
Seit die Seismologie nicht nur in Archiven den historischen Erdbeben nachspürt, sondern auch 24 Stunden pro Tag mit einem hochempfindlichen seismischen Stationsnetz den unregelmässig bebenden Puls der Erde erspürt, weiss man: Erdbeben im Untergrund Graubündens sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
So hat der Schweizerische Erdbebendienst in Graubünden sowie im grenznahen In- und Ausland zwischen 1975 und 2003 rund 650 Beben registriert – pro Jahr also durchschnittlich mehr als 20 Ereignisse. Rund 90 Prozent dieser Beben waren jedoch so schwach, dass sie nur von den seismischen Stationen erfasst, von der Bevölkerung jedoch nicht verspürt wurden.
Die ständige Erdbebenaktivität im Untergrund Graubündens – maximal 15 bis 20 Kilometer tief – ist letztendlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich der Kontinent Afrika seit Millionen von Jahren mit rund vier bis acht Millimetern pro Jahr nach Norden schiebt und sich dabei in die Südflanke Europas rammt. Dieser Kollisionskurs Afrikas wird sich auch in den nächsten paar Millionen Jahren mit Sicherheit nicht wesentlich ändern. Fazit: Die Stadt Chur wird auch in Zukunft von Beben durchgeschüttelt werden – solange, bis die Gletscher in der nächsten Eiszeit wieder Richtung Mittelland vorstossen und dabei Chur vollständig «ausradieren» ...
Indonesien in Mittelbünden?
Wie sieht denn die bebende Zukunft von Chur konkret aus? Die gute Nachricht im Voraus: Ein Magnitude-9-Beben, wie es sich im Dezember 2004 in Indonesien ereignete, ist in der Schweiz nicht möglich. Die schlechte Nachricht: Auch ein «mögliches» Magnitude-7-Beben (wie es sich beispielsweise in Basel 1356 ereignete) wäre noch genügend stark, um in der Schweiz Gesamtschäden von -zig Milliarden Franken zu bewirken.
Würde sich das Beben von Churwalden (1295) heute ereignen, käme es alleine in Graubünden an versicherten Gebäuden zu Schäden im Wert von mehreren Milliarden Franken. Diese sind – im Gegensatz zu Schäden durch Hagel, Rüfen oder Lawinen – nicht versichert. Nach Angaben der Gebäudeversicherung Graubünden sind sie auch gar nicht versicherbar, da es versicherungstechnisch nicht möglich ist, Milliardenbeträge für ein Ereignis bereitzustellen, das so selten eintritt und gleichzeitig zu so grossen Schäden führt.
Verletzliche Bauwerke
«Bauwerke töten, nicht Erdbeben.» Diese weltweit gültige «Erdbeben-Quintessenz» beinhaltet die grundlegende Erkenntnis, dass die eigentlichen Bodenbewegungen eines starken Bebens meist nur zu einem geringen Teil für Tote und Verletzte verantwortlich sind – in den meisten Fällen sind es jene Bauwerke, die wegen den Bodenbewegungen Schäden erleiden oder einstürzen.
In der Schweiz ist nur ein geringer Teil der «normalen» Bauwerke wie Mehrfamilienhäuser oder Bürogebäude gemäss modernen Baunormen erdbebensicher (d.h. «einsturzsicher»). So weiss man beim grössten Teil der normalen Bauwerke nicht, ob sie beim so genannten «Bemessungs-Beben» einstürzen würden – ein Beben, welches sich durchschnittlich einmal in fünfhundert Jahren ereignet. Dieses Beben hat im Raum Chur Auswirkungen der Intensität VII-VIII, d.h. es ist fast so stark wie das Beben von Churwalden, 1295.
Vorbeugen ist besser ...
Kommentar der «Engadiner Post» zur Erdbebenserie von 1905: «Summa Summarum: Der Herrgott hat das rätische Völklein zu Weihnachten ziemlich energisch am linken Ohrläppchen gezupft und seine ‹bescheidenen› Kinder wieder einmal deutlich an ihre ‹Allmacht› erinnert.»
Was die Entstehung von Erdbeben betrifft, da sind wir tatsächlich «ohnmächtig». Jedoch steht es in unserer Macht, ihre Auswirkungen zu einem gewissen Grad zu verhindern.
Wirksamstes Mittel: Bestehende Bauwerke auf ihre Erdbebensicherheit untersuchen – insbesondere im Katastrophenfall wichtige Bauwerke wie Spitäler oder Feuerwehrstützpunkte – und sie falls nötig erdbebenertüchtigen. Und: Neue Bauwerke konsequent gemäss modernsten Baunormen erdbebensicher erstellen. Tun wir es lieber heute als morgen – denn das nächste Beben kommt garantiert.
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