Demokratie
Hilft uns das chinesische Jahr des Tigers, 
  unseren Wissenshorizont über 
  die Dim Sum hinaus zu erweitern, 
  weil es neue Energiewellen verspricht? 
  Nötig wäre es. Am ersten Sonntag im 
  März steht uns nämlich eine Volksabstimmung 
  bevor. Wieder einmal dürfen 
  wir Ja oder Nein sagen zu Themen, 
  die uns einfache politische Gemüter 
  schlichtweg überfordern. Nicht einmal 
  die geschickte Kombination der 
  drei Bundesvorlagen verschafft uns 
  dabei Erleichterung. Es geht erstens 
  um die Forschung am Menschen und 
  zweitens gegen die Tierquälerei. Wohl 
  um die Einheit der Materien zu wahren, 
  bringt man diese beiden Vorlagen 
  getrennt zur Abstimmung. Prima 
  vista hat ja Forschung auch nichts mit 
  Tierquälerei zu tun. Ohne einen etwas 
  archaischen Migrationshintergrund ist 
  man gar nicht fähig, hier Unterschiede 
  festzustellen. 
 
  Damit nicht genug, es kommt auch 
  noch dieser Umwandlungssatz ins 
  Spiel. Auf den ersten Blick steht er in 
  keinem Zusammenhang mit Roger 
  Federer, der auch manchmal ein Spiel 
  im letzten Satz zu seinen Gunsten 
  wandelt. Fragezeichen bleiben also. 
  Die Kantone halten ihrerseits einige 
  Brocken bereit, die uns am Sinn von 
  Volksabstimmungen zweifeln lassen. 
  Nur für Akademiker (NFA) hat Graubünden 
  einen Gesetzesentwurf parat. 
  Und im Kanton St Gallen geht es um 
  eine Hauserweiterung beim Kantonsspital 
  zur Verbesserung der zentralen 
  Sterilisation. 
 
  Warum können wir nicht einfach bei 
  den leicht verständlichen Dingen mitentscheiden? 
  Etwa über eine «Abhockerinitiative 
  », welche die SBB zwingt, 
  mehr Sitzplätze zur Verfügung zu 
  stellen? Oder über die Wahl eines 
  Bundespräsidenten auf Lebenszeit mit 
  gleichzeitiger Abschaffung des Bankgeheimnisses? 
  Überfällig ist auch der 
  Volksentscheid über eine allgemein 
  gültige Verfassungslimite für die täglichen 
  Bedürfnisse. So ein – sagen wir 
  einmal 10 %-Limit liesse sich anwenden 
  auf Bankerboni, Ausländeranteil, 
  Schwarzgeld, Staatsverschuldung, 
  deutsche Uni-Professoren und 
  Filmförderung, um nur die nahe liegenden 
  Beispiele zu nennen. Wir hätten 
  es dann erst noch einfacher, in 
  den nächsten Ferien unserem Bungalow- 
  Nachbarn die Vorzüge schweizerischer 
  Volksdemokratie praxisnah 
  und leicht verständlich zu erklären. 
  Nichts davon, das Gegenteil trifft zu! 
  Man bringt uns Vorlagen, über welche 
  wir am besten mit einem eindeutigen 
  Jein entscheiden, um nicht in Verdacht 
  zu geraten, politische Ignoranten 
  zu sein. O.K., nur weil wir nichts 
  verstanden haben, sollten wir die Demokratie 
  nicht grundsätzlich in Frage 
  stellen. Auch wenn sie gemäss Winston 
  Churchill die schlechteste aller Staatsformen 
  ist – ausgenommen alle anderen. 
  Er hatte leicht reden, sein Land 
  kommt bis heute ohne Verfassung klar. 
 
  Ein kurzer Blick in einen ebenso gut 
  funktionierenden Kleinstaat ganz in 
  unserer Nähe zeigt, wie es auch geht. 
  In Singapur etwa, dem Staat in Familienbesitz 
  ohne Qual mit Abstimmungsvorlagen. 
  Die Chinesen, Araber, 
  Inder und Europäer leben friedlich 
  zusammen, eröffnen ein neues Casino, 
  bekommen Fondue im Swissôtel, 
  schauen sich mitten in der Stadt ein 
  Formel-1-Rennen an und fahren verkehrsberuhigt 
  dank des Road-Pricing- 
  Systems in die Innenstadt, wo allgemeines 
  Rauchverbot herrscht. Kaum 
  anzunehmen, dass hier jemand darüber 
  abgestimmt hat, so gut funktioniert 
  es. Um etwas Littering betreiben 
  zu dürfen, muss man schon in der 
  Long Bar bei einem Singapore-Sling 
  die obligatorischen Erdnussschalen 
  auf den Boden werfen. Auf der Strasse 
  hingegen ist alles und sind alle 
  sauber und draussen vor der Stadt 
  befindet sich der beste Flughafen der 
  Welt. Können wir von den Singapurer 
  etwas lernen? 
 
  Wenn dagegen vier Minarette eine 
  ganze Nation über Monate hinaus in 
  Atem halten, steht auch einer intensiven 
  und basisdemokratischen Auseinandersetzung 
  mit allen anderen Nebensächlichkeiten 
  nichts im Wege. 
 
  Auch dann nicht, wenn wir kein Wort 
  davon verstehen. Wir haben eine Demokratie. 
  Wer es nicht glaubt, ist kein 
Demokrat.
Stefan Bühler