Ekzessiv
Alles lässt sich steigern, nicht nur
Versprecher und Versprechungen von
Politikern. Gelernt haben wir in der
Schule, dass es für Adjektive drei Formen
gibt: Positiv, Komparativ, Superlativ,
beispielsweise gross, grösser,
am grössten. Jede Stufe hatte ihre
Berechtigung, oder anschaulicher formuliert:
Ist ein Schwangerschaftstest
erst einmal positiv, gibt es nichts
mehr zu steigern.
So einfach war das. Jedenfalls, bis die
Sportkommentatoren und die Werber
kamen. Seitdem kennt die Steigerungseuphorie
keine Grenzen mehr.
Bei jedem Skirennen wird aus dem
Optimalen noch das Optimalste herausgeholt,
eine Radiostation behauptet
von sich, den aktuellsten Strassenzustandsbericht
zu liefern. Simon
Ammann ist bisher der einzigste
Schweizer Skispringer, der den Gesamtweltcup
holt, weil alles supermegageil
gelaufen ist, was die Kommentatoren
uns brutalstmöglichst deutlich
klarmachen. Derweil sie bereits auf
der Suche nach neuen Superlativen für
Carlo Janka sind, ebenfalls Gesamtweltcupgewinner.
In Janka-Deutsch
heisst das auf seiner eigensten Homepage
in einem hilflosen Selbstversuch:
«Wirklich ungalublich!». Ungalublich
übertrifft ein einfaches unglaublich
natürlich bei weitestem.
Optimal allein genügt nicht, denn wir
dürfen in keinster Weise einen maximaleren
Aufwand für den minimalsten
Gewinn erzielen, wenn wir schnellstmögliche
Antworten brauchen.
Beispiel Arbeitszeugnisse: Brauchbarst
sind sie nur, wenn das Steigerungspotenzial
optimalst ausgeschöpft
wird. Wenn nicht im Zeugnis steht
«Zu unserer vollsten Zufriedenheit»
sinkt die Chance bei jeder Stellensuche.
Dabei kann ein Mitarbeiter nicht
mehr als voll sein, jedenfalls bezüglich
der versprühten Zufriedenheit.
Auf der Suche nach höchstqualifiziertesten
Bewerbern ist eben nur das
superhyperisierte Neudeutsch gut genug.
Einfacher ist es im Baskischen,
wo es die vierte Stufe der Steigerung,
den Exzessiv, ganz offiziell gibt. In
Zeiten der exorbitanten Managerlöhne
ist diese Überstufe auch nötig. Was
zu viel ist, ist zu viel, andere Sprachen
berücksichtigen das mit dem
Exzessiv. Uns fehlt er, deshalb greifen
wir zu den unmöglichsten Wortschöpfungen,
um einen normalen Zustand
wie «zu voll», «zu gross» und «zu alt»
zu umschreiben.
Dazu zwei einfache, aber höchst aktuellste
Beispiele: Im Zusammenhang
mit der Diskussion um das Bankgeheimnis
sind folgende Stufen bekannt:
Schwarzgeld, Weissgeld, Weissglut
(beim Steuerzahler). Oder auf die
Stadt Chur bezogen, wo die Verwaltung
jährlich 100 Millionen Franken
verschlingt: Boni, Boner, Bonissimo.
Auch bei aller Logik kann eine einfache
Steigerung zur Verunsicherung
führen – hier liegt der Hund in Pudels
Kern begraben. Im Zusammenhang
etwa mit dem eigenen Geburtstag,
wenn der Komparativ einfach schmeichelhafter
ist. Wer wird schon gerne
alt, wenn die zweite Stufe mildernd
von älter spricht. Älter werden ist
schliesslich besser als alt sein.
Man kann dann in Ruhe all die Sünden
bereuen, die man nicht begangen
hat. Und sich an Kleinigkeiten erfreuen.
Zum Beispiel dann, wenn man an
der Klassenfeier von den andern erkannt
wird. Tatsächlich wird man an
solchen Treffen das Gefühl nie ganz
los, einige hätten ihre Kinder und andere
ihre Eltern mitgebracht.
Nun denn, der Schöpfer war bekanntlich
nicht sehr galant. Sonst hätte er
nicht alle Falten im Gesicht konzentriert,
obwohl doch anderswo genug
Platz wäre. Eine besondere Form der
Steigerung zu diesem Thema stammt
von Albert Schweizer: «Mit zwanzig
Jahren hat jeder das Gesicht, das Gott
ihm gegeben hat, mit vierzig das Gesicht,
das ihm das Leben gegeben hat,
und mit sechzig das Gesicht, das er
verdient.» Gemeint ist der Mann, der
sich auflehnen kann. Komplett wehrlos
hingegen sind die Frauen. Jedenfalls
so lange, bis der Nagellack trocken
ist. Dann aber reichen die drei
Steigerungsformen auch nicht mehr,
um das auszudrücken, was zum Thema
noch zu sagen wäre.
Stefan Bühler