Zweitmeinung
Stell dir vor, das Volk hat entschieden und niemand weiss was. Dann stehen die Zeichen wie am aktuellen Beispiel Zweitwohnungsinitiative bei Behörden und Touristikern auf Sturm. Der Anteil dieser Zweitwohnungen ist auf 20 Prozent zu beschränken, so steht es nun in der Verfassung, was wiederum einige aus der Fassung bringt. Das Geschäftsmodell der kalten Betten hat in der Schweiz ausgedient, fast so wie in österreich und Frankreich. Dort haben die Behörden längst erkannt, dass Alpendörfer mit geschlossenen Fensterläden kein Ferienfeeling vermitteln. Sie versuchen, die Entwicklung in bessere Bahnen zu lenken.
In der Schweiz geht alles etwas langsamer. Man fragt das Volk und das sagt dann Ja oder Nein, auch wenn es um kalt oder warm geht. Das bringt die Demokratie halt so mit sich, dass man nur zwischen Schwarz und Weiss entscheiden kann. Ob unsere Demokratie eine KompromissWirtschaft oder halt doch eine KomproMisswirtschaft ist, entscheidet sich von Fall zu Fall. Jedenfalls führt sie dazu, dass nun innovative Ideen gefragt sind, um diesen Volksentscheid umzusetzen. Damit fängt aber auch schon der babylonische Begriffswirrwarr an. Was eine Zweitwohnung ist, weiss nämlich niemand so recht. Sicher ist nur, dass etwas nicht mehr gebaut werden darf, von dem nicht feststeht, was es eigentlich ist. In dieser Situation könnte man es sich einfach machen: Man lässt die Fensterläden das ganze Jahr offen, wandelt seine bestehende Erstwohnung in eine Zweitwohnung um und baut sich eine Drittwohnung.
Nach einer Abstimmung fehlt es selten an Ideen, wie sich ein Volksentscheid aushebeln lässt. Bei der Zweitwohnungs- Frage gibt es auch gute Gründe. Viele Stimmberechtigte hatten vor dem Urnengang zum Thema eine glasklare Meinung, auch wenn sie selbst damit nicht einverstanden waren. Dieser Konflikt löst sich in einer Demokratie meist von allein auf. Dafür haben wir die Politiker. Die dann eine Arbeitsgruppe einsetzen, bestehend aus Leuten, die den Politikern sagen, was das Volk gemeint hat. Und wie man diese Meinung respektieren kann, ohne dabei Volkes Wille umsetzen zu müssen. Das Verfahren führt zwar nicht direkt zur Verjährung, darauf läuft es aber hinaus.
Schlechte Vorbilder dazu gibt es genug. So nahmen die Schweizer Stimmbürger 1994 die Alpenschutzinitiative an, und zwar gegen den Willen der Regierung. Bisher setzte sich die Regierung durch. Oder das Beispiel Gewässerschutzgesetz von 1992. Dieses verlangt unter anderem die Sanierung von Kraftwerken, die zu wenig Restwasser in Bäche und Flüsse leiten. 20 Jahre nachdem das Gesetz in Kraft trat, sind die meisten sanierungspflichtigen Anlagen und Gewässer in der Schweiz noch nicht saniert. Warum sollte es dem Verfassungsartikel über die Beschränkung von Zweitwohnungen besser gehen?
Wenn die einzige Lösung darin besteht, auf Rezepte der Sechzigerjahre zurückzugreifen und Resorts anstelle von Zweitwohnungen in die Alpen zu quetschen, dann geht der Schuss nach hinten los. Mit 4900 Betten wird in Andermatt ein solches Projekt realisiert, weitere 50 solcher Grossprojekte sind in der Schweiz im Bau oder geplant. Frei nach Rilke: «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.»
Die Politiker sind in so grosse Schwierigkeiten geraten, dass sie dort selbst über eine Zweitwohnung verfügen. In der Regel sind es aber kluge Leute, die nicht alle Fehler selbst machen. Sie geben auch andern die Möglichkeit dazu.
Damit liegt der Ball bei den Bewohnern des Alpenraumes, bei den Touristikern und den Einheimischen. Sie haben zwar keine Chance, sollten diese aber packen. Für George Bernard Shaw bedeutet Demokratie Wahl durch die beschränkte Mehrheit anstelle der Ernennung durch die bestechliche Minderheit. Keine Geiss schleckt es aber weg: Das Volk hat die politischen Weichen gestellt. Wer die politischen Harten stellt, wird sich demnächst weisen. Wenn wir erst einmal eine Zweitmeinung darüber haben, was eine Erstwohnung ist.
Stefan Bühler