Solidarität
Viel ist in diesen Tagen von Solidarität die Rede. Solidarität ist, was man für sich selbst fordert. Der andere soll gefälligst solidarisch sein, was wohl kaum Gegenseitigkeit bedeutet. Abwegig wäre das, gewiss. Die Beispiele falsch verstandener Solidarität häufen sich in letzter Zeit, das geht dann ganz schön ans Eingemachte. Eidgenössische Solidarität gebietet es selbstverständlich, dass der Kanton Bern von den anderen im Rahmen des Finanzausgleiches im kommenden Jahr 1,2 Milliarden Franken erhalten wird. Gut so, auch die Kantone Graubünden und St.Gallen nehmen den Reichen etwas weg. «Die Solidarität darf nicht überstrapaziert werden», sagt der Nationalrat Bruno Pezzatti aus dem Kanton Zug. Was soll denn das nun wieder heissen? Man kann wohl kaum den armen Kantonen Bern und Wallis Kürzungen zumuten. Wie sollten sie sonst weiterhin ihre Staatsangestellten bereits mit 63 Jahren pensionieren können? Igitt, so eine Zumutung. Von den Griechen muss man lernen, wie man die linke Hand aufhält und mit der rechten Hand für eine gute Ausgangslage bei den nächs ten Wahlen sorgt.
Aber wir müssen gar nicht über die Grenze schauen, mit der Solidarität ist es auch bei uns nicht gerade weit. In Graubünden wird gerade über eine Tourismusabgabe abgestimmt. Da kommen doch einige auf die aberwitzige Idee, das hätte etwas mit den Olympischen Spielen zu tun. Wenn also das Oberengadin zum Beispiel diese neue Abgabe ablehnt, erzürnt das die Surselva. Und diese lehnt dann im kommenden Jahr den Olympiakredit ab, den das Oberengadin will. Klar, sie muss nicht darauf Rücksicht nehmen, dass vor Kurzem der ganze Kanton zur Porta Alpina Ja gesagt hat. Das ist Schnee von gestern, wir finanzieren jetzt den Schnee von morgen. Gefordert ist Solidarität von allen Regionen, von den Bauern und vom Gewerbe.
Und dieses Gewerbe - etwa die Druckindustrie - freut sich beinahe täglich über diese einseitig gelebte Solidarität. Vor allem, wenn die Surselva ihren Ferienprospekt in Deutschland, Oberengadiner Bergbahnen Flyer in Italien, die Lenzerheide Briefpapier über Makler ohne eigenen Betrieb und Bahnen im Oberhalbstein ihre Prospekte in österreich drucken lassen. Und wenn die öffentliche Hand Unternehmen berücksichtigt, die sich nicht an den gültigen Gesamtarbeitsvertrag halten und darum auch billiger sein können. Das alles ist gelebte Solidarität und ruft geradezu nach einer positiven Einstellung des Gewerbes zur Unterstützung der Tourismusbranche. Die Drucker zahlen ihre neue Tourismusabgabe am besten gleich in Euro.
Wenn das Oberengadin die Surselva bei der Tourismusabgabe nicht unterstützt, kommt die OlympiaRetourkutsche, klar doch. Das ist negative Dolchstosstaktik. Besser gefahren sind wir allerdings mit der positiven GibstdumirgebichdirStrategie. In vielen Gemeinden war es schon immer so, dass die Vereine untereinander sehr, sehr solidarisch waren. Brauchte der Schützenverein Geld für sein Schützenhaus, erhielt er die Unterstützung der Jäger, der Bauern, des Turnvereins, der Musikgesellschaft und des Frauenvereins, und brauchte die Musikgesellschaft neue Uniformen...aber klar doch. Gelebte Solidarität nach dem Grundsatz «Eine Hand wäscht die andere». Gut so, sonst beginnen diejenigen, die nicht organisiert sind, auch noch dreinzureden in der Gemeindeversammlung.
Dabei gibt es auch im Kleinen immer wieder schöne Beispiele, an denen wir uns ein Vorbild nehmen können. Ein altes Paar etwa, das sich mit 92 Jahren scheiden lassen möchte, erklärt, weshalb es nach so langer Ehe noch die Scheidung will: «Naja, wir wollten warten, bis die Kinder tot sind.» Auch im Tierreich gibt es nicht selten Beweise gelebter Solidarität. Als nach einem Schiffsunglück alle Passagiere bis auf einen Rechtsanwalt von Haien gefressen wurden, meinte dieser auf die Frage, weshalb er überlebt hat: «Berufliche Solidarität!»
Stefan Bühler