Ausmisten
Seit 2000 Jahren wird der Verfall
der Sprachen schriftlich dokumentiert,
und trotzdem ist es noch keinem
gelungen, eine verfallene Sprache
zu benennen. Das ändert sich jetzt
schlagartig, wenn wir die Entwicklung
der deutschen Sprache zum umgangssprachlichen
Denglish verfolgen.
Gestern noch am Rande des Abgrunds,
heute bereits einen Schritt weiter. Die
Sprache stürzt ab und reisst ihre Vergewaltiger
mit in den Abgrund.
Dass sich unsere Sprache ständig
wandelt, ist nicht zu beanstanden.
10000 neue Begriffe sind allein im
vergangenen Jahrzehnt dazugekommen,
einige hätten wir uns besser
erspart. Einleuchtend für jedermann
sind neue Schöpfungen wie Datenklau,
Vatileaks, Kachelmanns Opfer-
Abo, klimaneutral, Tätervolk, Feuchtgebiete
und Dönermorde. Und wenn
wir nicht Papst sind, dann wenigstens
Weltmeister der Herzen. Klingt jedenfalls
besser als Looser. Sogar mit
der Abwrackprämie konnte man sich
noch identifizieren, wenigstens so
lange uns die Jugend im Ungewissen
darüber liess, dass sie den Begriff für
die AHV benutzt.
Richtige Verständigungsprobleme
kommen
spätestens auf, wenn es um
Simsen, Googeln, Downloaden, Podcasten
und Twittern geht. Schon ist
zu befürchten, dass sich die ersten
Followers
aus dieser Kolumne wegklemmen.
Das ist nicht gerade lol,
obwohl dieser lustige Begriff auch
schon wieder uncool ist.
Warum sich darüber aufregen, nur
weil gemäss Coop-Werbung die Zeit
zum Grillen naht? Diesen Teutonismus
verzeiht man, auch wenn es gesünder
wäre, wir würden zum Grillieren künftig
Lasagne nehmen, weil das Pferdefleisch
dann besser schmeckt. Auf
Twitter heisst es dann: «Wer reitet so
spät durch Nacht und Wind? Es ist die
Lasagne ohne Rind.» Und in Shakespeares
Richard III.: «Ein Königreich
für eine Lasagne.» All das lenkt davon
ab, dass man auch zirpende Grillen
grillieren kann.
«Hey, Mann, gömmer Migros?» Auch
dieser Satz eine kulturelle Wohltat.
Nicht nur, weil er so ungemein poetisch
ist. So einfältig er daherkommt,
so vielfältig ist er in der Bedeutung,
steht er doch für Einkaufen und für
Klauen.
Es ist Zeit zum Ausmisten in diesem
Augiasstall der Sprachbegriffe. Erste
Lichtblicke sind zu erkennen. So hat
die deutsche Armutskonferenz erstmals
unsoziale Begriffe an den Pranger
gestellt. «Alleinerziehend» gehört
dazu wie «Arbeitslos» und «Behindertentransport
». Wie allerdings die
Alternativen
aussehen, verrät die Konferenz
nicht. Statt «Alleinerziehend»
«Sitzengelassene» und statt «Behindertentransport» «Behindertenbeförderung»? Ob jeder, der nicht mehr
transportiert werden will, dafür gleich
befördert wird, ist zumindest zu hinterfragen.
«Illegale», «Trittbrettfahrer»
und «Wirtschaftsflüchtlinge» dürfe es
nicht mehr geben, sagt die Konferenz.
Und mit ihr die schweigende Mehrheit.
Da kommt uns die Erweiterung des
Schengenraums gerade recht, zumal
es beim Tourismus sowieso harzt,
während lediglich der Kriminaltourismus
noch Zuwachsraten verzeichnet.
Wer sich an der Verluderung aktiv beteiligt,
muss sich nicht wundern, wenn
er dann stolpert. Nicht ohne Grund ist
das Wort «Shitstorm» zum Begriff des
Jahres gekürt worden. Es umschreibt
die Welle der Empörung, die man
sich meist selbst zuzuschreiben hat.
Der Zürcher SVP-Politiker Alexander
Müller hätte seine «Kristallnacht für
Moscheen» besser nicht getwittert.
Auch der Fussballer Michel Morganella
musste die Schweizer Olympia-
Mannschaft nach seinem Twittereintrag
verlassen: «Ich könnte alle
Südkoreaner
verprügeln. Geht euch
alle abfackeln, Bande von geistig Behinderten», schrieb der Walliser.
Gefragt ist «ein Goldschmied der Worte», wie es im Roman «Nachtzug nach
Lissabon» heisst. In diesem Büchlein
steht der bemerkenswerte Satz:
«Wenn es so ist, dass wir nur einen
kleinen Teil von dem leben können,
was in uns ist - was geschieht mit
dem Rest?» Wir könnten ihn nutzen
zum Ausmisten.
Stefan Bühler